Tanzhaus NRW: Provokateur der Tanzbühne
Dave St. Pierre stellt seinen neuen Tanzabend vor und zeigt dabei nackte Tartsachen.
Düsseldorf. Sieben nackte Männer mit blonden Langhaarperücken beim Zählappell. Sie schnattern, kleiden sich an und geben sich mit dem Ausruf "Frappe-moi" ("Schlag mich") einen Klaps auf die Wange. Alles sieht nach lustiger Travestie aus, doch plötzlich streift das Septett die Perücken ab. Die Rufe werden lauter, die Schläge brutal, Hautpartien färben sich rot, bis eine Zuschauerin entnervt "Arrête!" ("Hört auf") ruft.
Doch damit nicht genug, die Tänzer stürzen sich in eine Kampfchoreographie. Spielerische Watschen kippen in Selbstkasteiung und -bestrafung, trashige Komik in brutalen Ernst. Es sind die Kippfiguren, die in Dave St. Pierres Choreographie "Un peu de tendresse bordel de merde!" ("Ein bisschen Zärtlichkeit, verdammt noch mal") zunächst frappieren.
Man darf diesen Titel ganz wörtlich nehmen. Dave St. Pierre spürt der Sehnsucht, dem Begehren, der Liebe und den Formen ihrer Kompensation und Versagung nach. Der junge kanadische Choreograph bedient sich dabei unterschiedlicher Stilmittel, die den zeitgenössischem Tanz und Tanztheater mit Zitaten des Camp- und des erotischen New- Burlesque-Tanzes anreichern.
Forciert wird dies noch durch Karina Champoux als sarkastische Zeremonienmeisterin Sabrina, die ironisch den Abend kommentiert, Tipps für die Jagd gibt oder mit den Ängsten der Zuschauer spielt. In einer virtuosen Dramaturgie kontrastiert Dave St. Pierre diese Szenen mit Momenten fast unerträglicher emotionaler Intensität.
Da steht eine Frau vor einem Mann und bittet ihn mit einer zarten Bewegung, sich ihr zu nähern. Er rührt sich nicht. Sie stößt Klagelaute aus. Als sie sich schließlich schluchzend am Boden wälzt, meint man, ihren Körper vor Sehnsucht schier schreien zu hören.
Dave St. Pierre gilt als Provokateur der Tanzszene, auch deshalb, weil er seine 16 Tänzerinnen und Tänzer immer wieder nackt agieren lässt. Das ist auch in der neuen Choreographie so, doch selten wurde der nackte Körper so zart, so verletzlich, aber auch so komisch präsentiert.
Um dem Voyeurismus die Spitze zu nehmen, schickt Dave St. Pierre seine Männerschar zu Beginn quer durchs Publikum: Anfassen und der Blick auf alle nackte Tatsachen inklusive.
Allmählich kocht der Abend die Komik dann herunter. Eine junge Frau im Rüschenkleid steht in einem Lichtschacht; sie dreht sich um die eigene Achse, Haare und Arme fliegen, sie blickt nach oben, und die Männer geben ihr nacheinander einen flüchtigen Kuss. Cat Power und Arvo Pärt liefern den melancholischen Soundtrack.
Es liegt eine Verzweiflung, Einsamkeit und Erwartung über der Szene, die körperlich spürbar ist. Gesteigert wird sie durch die schreiende Moderatorin, die alleine zwischen den liegenden Tänzern steht.
Doch so entlässt Dave St. Pierre seine Zuschauer nicht: Ein kitschig-schönes Wasserballett mit gleitenden nackten Körpern, die am Ende alle in Löffelchen-Stellung auskommen, setzt den Schlusspunkt, der brutal, komisch, poetisch, trashig ist, der aber vor allem emotional berührt wie lange kein Abend mehr im Tanzhaus.