Uraufführung: Tanzen gegen Gruppenzwang
Stephanie Thiersch zeigt ihre neue Arbeit im Rahmen von „Temps d’images“.
Düsseldorf. „Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem ein Schaf sein.“ Was Albert Einstein so süffisant und doppeldeutig auf den Punkt brachte, ist Choreografin Stephanie Thiersch und Medienkünstlerin Angela Melitopoulos eine Tanzperformance wert.
Die Mimikry, jene Fähigkeit des Lebewesens, nachzuahmen und sich anzupassen, ist Thema ihrer Produktion, die jetzt im Tanzhaus im Rahmen des Festivals Temps d’ images Uraufführung feierte.
Ein Jahr lang beobachteten die Künstlerinnen das Verhalten von Menschen und Tieren in der Gruppe, ihre Kommunikation, ihr Sozialverhalten. Gefilmt wurde in Afrika und Shanghai. Das Ergebnis der aufwändigen Arbeit ist eine durchkomponierte Studie, die mit hochästhetischen Bildern für sich einnimmt.
Warten und beobachten. Ob in der nachgebauten Halle eines Flughafens auf der Bühne oder am projizierten Airport von Shanghai: Wer sich in einen Raum mit anderen Menschen begibt, passt sich an. Wortlos übernimmt er den vorherrschenden Verhaltenskodex. Wer sich nicht an die Ordnung hält, wird zum Außenseiter. Wie einer der Tänzer, der die Lethargie des Wartens überwindet und die Absperrungen niedertanzt.
Solche Szenen choreografiert Stefanie Thiersch mit ruhiger Hand. Viel Zeit lässt sie sich, um das dumpfe Vor-sich-hin-starren, das neugierige oder ängstliche Beobachten zu zeigen. Bilder von Wartenden in China werden eingeblendet. Dazu läuft eine Musikschleife, deren monotone Rhythmen an- und abschwellen. Überhaupt trägt die Sound-Komposition die sieben starken Tänzer sicher durch das Stück.
Die international gefragte Choreografin untersucht die Folgen des Phänomens. Die mausgraue Masse nämlich ist gefährlich: Es wird gemobbt, geprügelt im Modern-dance-Duktus. Doch dann erlaubt Stephanie Thiersch ihren Figuren eine Entwicklung. Das Alphamännchen kommandiert die anderen herum, bevor es ihnen Sätze einflüstert wie „Du bist einzigartig“.
Die Gruppe reagiert erschrocken, drängt sich aneinander. Nach und nach werden die Bewegungen freier, bis alle lächeln, wie auf dem Catwalk flanieren und schließlich ihre unauffällige Kluft ablegen — darunter zeigt sich extravagante Garderobe. Dennoch: Selbst das Entdecken der Individualität findet sogleich Nachahmung, und am Ende stehen alle wieder beisammen in einer Gruppe.