Wilde Collage über Herrscher und Diener
Die deutsche Erstaufführung von Joel Pommerats „Kreise/Visionen“ am Samstag im Großen Haus wurde zum Theaterspektakel.
Düsseldorf. Was haben das Ende der Kreuzzüge im späten Mittelalter, der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrise 2009 gemeinsam? Wendepunkte, in denen sich die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Klassen, zwischen Herren und Dienern, nur scheinbar veränderten. So zumindest deutet es der französische Autor Joël Pommerat in seinem Theaterspektakel „Kreise/Visionen“. Hinter diesem wenig verkaufsträchtigen Titel verbirgt sich eine unterhaltsame, aber nachdenkliche Zeitreisen-Collage quer durch die Geschichte der letzten 700 Jahre und ein wahres Schauspieler-Fest.
Kein Wunder, dass die Truppe von Pommerat für dieses Werk vor fünf Jahren in Paris mit dem begehrten Prix Molière ausgezeichnet wurde. Die deutsche Erstaufführung im nahezu voll besetzten Großen Haus am Gründgens-Platz wurde zum Erfolg für Autor, Mimen und Regie-Team unter Hans-Ulrich Becker.
Der Leiter des Abends: ein Conférencier, anfangs mit einem Totenschädel in der Hand. Alles spiele sich im Kopf ab, sagt der Schlaumeier und lädt das Publikum zu einem „Unendlichkeitsspiel“ ein. Untermalt von blubbernden Sounds, die man aus diversen TV-Millionenspielen kennt. Der Preis, wie man später erfährt: ein willfähriger Diener.
Der Conférencier (wandlungsfähig als Spieler und Sänger: Andreas Grothgar) mutiert während der knapp drei Stunden vom anpreisenden TV-Moderator bis hin zum verführerischen Nachtclub-Besitzer und Mephisto. Und um Diener, auch im weiteren Sinn, geht es in „Kreisen/Visionen“.
Anthrazitgraue Wände rollen auf ewig kreisender Bühne - und führen zunächst in den Salon eines Adeligen. September 1914, der Erste Weltkrieg hat begonnen. Vornehm gelangweilt räkelt sich Hohe Herr auf der Recamiere und flirtet mit seinem Diener. Er wolle ihn endlich duzen, das passe zur modernen Zeit. Er will ihn streicheln, mit ihm schlafen und zusammenleben. Der Diener versteht nicht, will alles für seine Herrschaft machen, nur das nicht. „Monsieur, ich kann nicht.“
Schnitt, 1901. Ein Baby schreit. Schnee rieselt. Das Kind stirbt. Madame entlässt daher die Amme. Es fehle ihr die professionelle Kompetenz, sagt sie kühl. Sie müsse die Konsequenzen tragen und sich einen anderen Posten suchen. Erbhöfe und Mitleid gäbe es nicht mehr in der „modernen Zeit“.
Schnitt, 1360: Ein armer, nackter Mönch rutscht auf Knien und fleht „Gott, gib ein Zeichen!“. Der Papst indes geht hoch oben auf dem Thron seinen fleischlichen Gelüsten nach. Die Verhältnisse zwischen Diener und Herren verändern sich kaum, so Pommerats Botschaft. Auch in unserer Zeit. Da hocken verängstigte Arbeiter, die durch die Bankenkrise ihren Job verloren haben, in einem Seminarraum. Der Selfmade-Unternehmer Jansen vermittelt sein banales Herrschaftswissen „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und drillt sie auf gute Laune.
Später unterliegt derselbe Boss in einem Pokerspiel mit Obdachlosen um eine Organspende für seinen todkranken Sohn. Eine skurrile, beinah surreale Szene, in der die Perversion der Macht vorgeführt wird - ebenso dann, wenn ein gerade beförderter Manager tödlich verunglückt und sein Kollege das Glück hat, den Traumjob seines Lebens zu ergattern. Ein Traum-Angebot, das der Chef noch nachts per Smartphone unterbreitet.
Rasant vorüber schnurren die Szenen, in denen die Mimen - wie Sven Walser, Jakob Schneider, Michael Kamp, Anna Kubin, Pia Händler und Oliver Sproll - durch temporeiche Verwandlungskunst und Spielfreude brillieren. Am Ende des Spektakels bleibt allerdings nicht mehr hängen als die Erkenntnis, dass die da oben und die da unten bleiben, jeder an seinem Platz. Eine nicht gerade originelle Einsicht, jedoch originell von Hans-Ulrich Becker und Alexander Müller Elmau (Bühne) in Szene gesetzt und über die Rampe gebracht. Herzlicher Applaus.