Kultur Literarisches „Wunderkind“ im Heine-Haus
Der 24-jährige Edouard Louis, mit „Das Ende von Eddy“ international erfolgreich, liest am Dienstag aus seinem neuen Werk vor.
Heiligabend in Paris. Edouard überquert die Place de la République, trifft zufällig auf einen jungen, gutaussehenden Araber („ein Kabyle“) namens Reda. Dieser schmeichelt ihm, möchte Edouard kennenlernen und fragt, ob er ihn nicht in seine Wohnung mitnehmen möchte. Dieses direkte Angebot nimmt Edouard erst nach langem Zögern an, bittet Reda in seine kleine Wohnung. Und die beiden landen im Bett. Doch dieses schöne Erlebnis endet für Edouard in einer Katastrophe, ja beinah tödlich. Denn nach der Liebesnacht wird Reda brutal aggressiv, würgt und vergewaltigt den Mann, in dessen Armen er eben noch gelegen hat.
Autobiografie oder Fiktion? „Eine wahre Begebenheit“, behauptet zumindest Edouard Louis und erzählt den Vorfall auf 220 Seiten des Buches „Im Herzen der Gewalt“, das in den nächsten Tagen im S. Fischer-Verlag erscheint. Direkt und schonungslos berichtet er über Vergewaltigung, Krankenhausaufenthalt, seine Anzeige, sein Gefühlschaos und Gespräche mit seiner Wahl-Familie in Paris. Und das in einer kunstvoll verschachtelten Form, die das Lesen anfangs erschwert.
Die Chronologie bricht er bewusst, Sex and Crime mutet er den Lesern nur in dosierter Form zu. Nur langsam lassen sich die verschiedenen Perspektiven — auch die der erfundenen Schwester Clara — auseinanderhalten und einen roten Faden ausmachen. Angereichert wird das vielstimmige Opus, das in Strecken, ähnlich wie im Rap, dahingeplaudert erscheint, mit inneren Monologen: Hier zeigt das Opfer Verständnis für den Täter und empfindet Gewissensbisse, als er Reda bei den Polizeibeamten anschwärzt.
Das Erscheinen des Originals in der renommierten „Edition du Seuil“ (einer der Topverlage Frankreichs, deren Autoren die meisten Literaturpreise einheimsen) provozierte 2016 einen Skandal. Wegen eines Drogendelikts wurde Reda, kurz nach Veröffentlichung, verhaftet und identifiziert als Figur des Vergewaltigers im Buch. Reda gab vor, er habe Edouard Louis nicht vergewaltigt, klagte gegen Schriftsteller und Verlag wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Im Prozess verzichtete Louis darauf, als Zeuge auszusagen und zog die Anzeige zurück.
Vielleicht trug auch der Skandal dazu bei, dass das Buch nun in 20 Sprachen übersetzt und demnächst verfilmt werden soll. Zu Beginn seiner Lesetour durch Deutschland und Österreich kommt er auch ins Heine-Haus: am 19. September, 19.30 Uhr. Sein Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel fungiert als Moderator.
Es ist das zweite Opus des 24 Jahre jungen Franzosen Edouard Louis, der bereits mit 21 Aufsehen erregte. Sein Debütroman „Das Ende von Eddy“, in dem er seine Jugend als homosexueller Außenseiter in der nordfranzösischen Provinz und seine Flucht nach Amiens und dann nach Paris literarisch aufarbeitete, erzielte mit knapp 300 000 Exemplaren eine sensationelle Auflage. Und katapultierte den Autor - er studiert an der geisteswissenschaftlichen Grande Ecole, „Ecole normale Supérieure“ - quasi über Nacht in die Charts. Der überraschende Erfolg machte ihn zu Frankreichs neuem Literatur-Star, über den nicht nur Printmedien, sondern seit einigen Jahren viele TV-Kanäle berichten.
Immerhin lässt er sich glänzend als spät erkanntes Wunderkind vermarkten, der wegen seines jungenhaften Gesichts mit fast Mitte 20 immer noch wie ein unschuldiger College-Boy ausschaut. So posiert er — der seinen Familiennamen Bellegueule ablegte und sich Louis nennt — gerne mit adretter Kurzhaarfrisur, in hochgeschlossenem Hemd oder klassischem, einfarbigem Wollpullover.
Und spricht mit wohlgesetzten Worten in gediegenem, bildungsbürgerlichem Französisch (und fließendem, fast akzentfreiem Englisch) — zu erleben in zahlreichen Youtube-Interviews.
Kaum zu glauben, dass er dem „Lumpenproletariat“ entstammt, wie er selber sagt, aus dem Nest Hallencourt in der Picardie. Und dass seine Eltern bei den Präsidentschaftswahlen Le Pen wählten. Er macht ihnen zwar den Vorwurf, reaktionär und homophob zu sein, kann sie aber auch verstehen. In Paris ist Louis, der von Anfang an offen schwul lebt, umgeben von Intellektuellen, verkehrt mit namhaften Jung-Philosophen wie Geoffroy Lagasnerie, und engagiert sich politisch in der Linken.
Natürlich habe er nicht ‚En Marche’ und Macron gewählt. Auch nicht die sozialistische Partei, der er vorwirft, sie sei abgehoben und kenne weder die Probleme noch die Sprache der einfachen Arbeiter.