Interview Selin Oruz „Vielleicht sind das jetzt gerade meine schönsten Jahre“

Düsseldorf · Die Spielführerin des Deutschen Hockey-Meisters Düsseldorfer HC steht vor ihren dritten Olympischen Spielen. Ein Blick zurück auf den Titel, einer nach vorne auf Paris.

Selin Oruz bei einem Länderspiel gegen Schottland im Vorjahr.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Hallo Frau Oruz, Sie sind mit dem Nationalteam, den Danas, unterwegs. Wie sahen die vergangenen Tage aus?

Selin Oruz: Vom Trainingslager in Essen, wo vergangene Woche ein Schwerpunkt auf der Leistungsdiagnostik lag, sind wir am Wochenende nach London zur Pro League mit insgesamt acht Länderspielen gegen Indien, USA, China und Australien geflogen.

Hat die Pro League einen hohen Stellenwert für euch oder ist das Turnier eher als Vorbereitung für die Olympischen Spiele zu sehen?

Oruz: Das ist definitiv eine Vorbereitungseinheit auf Olympia und gleichzeitig dienen die Spiele zur Nominierung für Paris.

Hinter Ihrer Berufung dürfte kein Fragezeichen stehen.

Oruz: Es ist letztlich egal, wie lange ich dabei bin – am Ende geht es auch bei Olympia darum, erst einmal offiziell nominiert zu werden. Gleichzeitig ist es wichtig, bei der hohen Belastung verletzungsfrei zu bleiben.

Geht die Vorbereitung übergangslos in die Olympischen Spiele über oder bleibt Zeit, zwischendurch abzuschalten?

Oruz: Am 13. Juni kommen wir aus England nach Hause. Danach bleiben mir fünf Tage für einen Kurzurlaub. Die Zeit werde ich mir zum Durchatmen und Auftanken nehmen. Danach geht es bereits weiter in die Niederlande zur nächsten Pro League-Serie. Dann ist auch Olympia nicht mehr fern. Es geht jetzt alles sehr schnell.

Wann starten die Danas in das Olympische Turnier?

Oruz: Am 27. Juli, einen Tag nach der Eröffnungsfeier. Das Hockeyturnier erstreckt sich über die kompletten zwei Olympia-Wochen, schließlich haben wir fünf Gruppenspiele und hoffentlich zwei weitere K.o.-Spiele bis zum Finale vor uns.

Ein kurzer Rückblick: Die DHC-Mannschaft hat bei dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft vor wenigen Wochen Charakterstärke bewiesen. Neben den rein sportlichen Qualitäten: Ist diese Stabilität in Sachen Disziplin eine besondere Stärke, um im richtigen Moment die optimale Leistung abrufen zu können?

Oruz: Disziplin und Zusammenhalt sind immer zwei wichtige Eckpfeiler. Vor allem der Teamgeist war Basis des Erfolgs, um weitere wichtige Entwicklungsschritte zu gehen. Dadurch sind Effektivität und Attraktivität unseres Spiels noch einmal gestiegen. Am Ende des Tages gewinnt dann auch der Spaßfaktor.

Kritische Stimmen haben euch vorgeworfen, das DHC-Spiel sei wenig attraktiv und einzig auf den Erfolg ausgerichtet. Vor allem die Nationalmannschaftskollegin Anne Schröder von Alster Hamburg hat sich darüber beklagt. Haben Sie sich im Kreis der Danas mit ihr darüber unterhalten?

Oruz: Das Interview, in dem Anne das gesagt hat, war direkt nach unserem 3:0-Sieg im Halbfinale um die deutsche Meisterschaft gegen Alster. Sie hat sehr emotional reagiert. Diese Emotionalität ist auch eine ihrer Fähigkeiten, von denen die Danas profitieren. Auf ihre Worte jetzt noch einmal ausführlich einzugehen, ist müßig. Es stimmt, dass unser erster Titelgewinn auf dem Feld 2021 vor allem auf unserer soliden Abwehrarbeit beruhte, den man von mir aus „eklig“ nennen kann. Seitdem haben wir unser Spiel aber definitiv verbessert.

Inwiefern verbessert?

Oruz: Auch mit einer stabilen Defensive und einer guten Zweikampfquote kann man Erfolge erzielen, gleichzeitig haben wir aber bei unseren Kontern qualitativ zugelegt. Gleiches trifft auf unser Pressing zu. Wir sind auch in der Lage, Spaßhockey zu spielen. Wer meint, wir würden nur destruktiv alles wegverteidigen und immer nur eine 1:0-Führung halten wollen, sollte genauer hinschauen. Wir müssen uns für unser Spiel nicht schämen.

Im Vergleich: Wie sehen Sie den DHC und die Danas in der Art, Hockey zu spielen?

Oruz: Total anders. Bei den Danas versammeln sich die besten Spielerinnen Deutschlands. Da ist die Qualität zwangsläufig sehr hoch. Die kann in den Bundesligavereinen nicht in diesem Maße vorhanden sein. In der Nationalmannschaft verlangen wir uns gegenseitig das denkbar höchste Niveau ab, um immer noch ein bisschen besser zu werden.

Was überwiegt bei dem Gedanken an Olympia: die Hoffnung auf eine Medaille oder die Vorfreude auf ein tolles Sportfest?

Oruz: Das Wichtigste ist für mich erst einmal, dorthin zu kommen. Der Spruch „Dabeisein ist alles“ stimmt nur bedingt, denn wenn wir in Paris sind, wollen wir den maximalen Erfolg. Wenn es zur Sache geht, wird alles drumherum ausgeblendet. Aber es ist ein schöner Nebenaspekt, dass Olympia in Europa staffindet, vor vielen Zuschauern, sodass der olympische Spirit aufblühen kann. Die Sportler können miteinander sprechen und wir können uns in die Augen schauen, ohne dazwischen eine Plexischeibe wie in Tokio zu haben.

Die Danas spielen in der Gruppe A gegen Belgien, China, Japan, Frankreich und nicht zuletzt gegen Weltmeister Niederlande. Wie groß ist die Dominanz des amtierenden Europa- und Weltmeisters sowie Olympiasiegers?

Oruz: Ich bin überzeugt, dass wir inzwischen solch eine Qualität und Stabilität haben, dass wir den Niederlanden das Wasser reichen und sie schlagen können. Aber natürlich: Es wäre ein super harter Fight, denn sie stehen nicht umsonst seit Jahrzehnten immer oben auf dem Podest. Aber Angst haben wir vor den Niederlanden nicht. Zudem sollte man nicht vergessen, dass die anderen Gegner auch Hockey spielen können. Und auch wenn wir in der Gruppenphase nicht immer unsere beste Leistung abrufen können, kommt es darauf an, das Viertelfinale zu erreichen und dann da das Optimale herauszuholen.

Sie haben jüngst in einem Interview gesagt: „Ich weiß jetzt, was es braucht, um das Beste aus mir herauszuholen.“ Welche Bedeutung hatten die vergangenen Jahre rückblickend für den persönlichen Reifeprozess?

Oruz: Die letzten Jahre hatten große Bedeutung für mich. Mit zunehmender Erfahrung wird man sich seiner selbst bewusster. In den Jahren als Kapitänin beim DHC und der langjährigen Danas-Erfahrung bin ich mit den Aufgaben gewachsen. Ich konnte konstant auf hohem Niveau spielen und über 160 Länderspiele bestreiten, was mich selbstsicherer gemacht hat. Letztlich ist es ein kontinuierlicher organischer Prozess, in dem ich durch meine sportliche, familiäre und berufliche Umgebung gereift bin. Es ist schön, wenn die hohen zeitlichen und inhaltlichen Investitionen Früchte tragen. Vielleicht sind das jetzt gerade meine schönsten Jahre.