Zum 100. Geburtstag des ermordeten Komponisten erscheint „Torso eines Lebens“ Gideon Klein – „verdrängte Musik“
PRAG. · Das Leben Gideon Kleins endete 1945 tragisch, als er kaum 25 Jahre alt war – bis heute ist unbekannt, ob er auf einem Todesmarsch umkam oder ein Opfer der SS wurde. Sein Todestag fällt mit dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz zusammen.
Grund genug, auf sein kurzes, kreatives Leben zu blicken.
Geboren wurde der Pianist und Komponist am 6. Dezember 1919. Er verbrachte die ersten elf Jahre seines kurzen Lebens in Přerov, einer kleinen mährischen Stadt südlich von Olmütz. 1931 bis 1941 lebte er in Prag, besuchte dort das Gymnasium, und setzte den Klavierunterricht fort.
Als Zwölfjähriger trat der junge Pianist bei einem Konzert des Prager Konservatoriums auf. Seine ältere Schwester studierte in Prag Klavier. Sie führte den Halbwüchsigen über ihren eigenen Freundeskreis in die intellektuelle und künstlerische Welt Prags ein. Das berühmte Künstlercafé Mánes spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Über der Moldau sitzend, genießt man noch heute den Blick auf Fluss mit Brücke und Hradschin. Dort traf sich damals das intellektuelle Prag mit seiner lebendigen Mischung aus tschechischer, jüdischer und deutscher Kultur.
Auch das reiche Theater- und Konzertleben der Stadt bot Gideon viel. Aber schon in seiner Heimatstadt hatte die Mutter durch die intensive Pflege von Freund- und Bekanntschaften mit Musikern und Schauspielern das Interesse ihres Sohnes geweckt und viele Impulse gegeben. Nach ihrer Scheidung kamen die Mutter und weitere Familienmitglieder nach Prag. Oskar Kokoschka und Angehörige von Thomas Mann besuchten die Familie. Menschen, die vorübergehend eine Bleibe in Prag suchten, waren immer wieder zu Gast und die große Wohnung der Familie wurde bald zu einem Treff von Verfolgten aus Nazi-Deutschland.
Vor dem großbürgerlichen Haus im Stil des Historismus am Moldauufer weisen heute Stolpersteine auf die Familie des Komponisten hin. Seine erste Komposition legte Gideon Klein als Neunjähriger vor, eine lyrische Suite für Klavier. Insgesamt handelt es sich um ein schmales Gesamtwerk, welches durch die Ermordung brutal abgeschnitten worden ist.
Nach dem Abitur fuhr Gideon für einige Wochen nach Italien. Nach der Rückkehr entstand sein Op. 11, ein Melodram für Singstimme und Klavier, in welchem er dem Ernst der Zeit und der persönlichen Bedrohung durch die Nazi-Barbarei musikalisch nachspürt.
Das Angebot eines Studienplatzes in London 1939 konnte er wegen Geldmangels und vor allem wegen fehlender Ausreiseerlaubnis nicht wahrnehmen, aber in Prag – wegen der inzwischen auch dort gültigen Nürnberger Gesetze – Komposition und Musikwissenschaft nicht weiter studieren. Geheimkonzerte in privaten Kreisen und zunehmendes kompositorisches Schaffen bestimmten sein Leben, bis er November 1941 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er als Arrangeur, Begleiter, Dirigent und Komponist mit seinen Kollegen Victor Ullmann, Pavel Haas und Hans Krása bemerkenswerte Aktivitäten entfaltete.
Ohne jede Chance, außerhalb dieses Ghettos jemals gehört oder auch nur zur Kenntnis genommen zu werden. Die dort entstandene Kammermusik wurde kürzlich in Wuppertal (in Liebe und Verehrung „Saitenspiel“) programmatisch den großen, bekannten, klassisch-romantischen kammermusikalischen Werken gegenübergestellt. Dort war auch sein Streichquartett Nr. 2 zu hören gewesen, welches kurz vor der Aufnahme ins Lager Theresienstadt entstanden war und in dem das lyrische Cello in großem Solo gegen das böse Chaos der Entstehungszeit ansingt. Mit solch progressiver Musik führte Klein die Tradition böhmisch-ungarischer Musik eines Janacek und Bartok fort.
Zum 100. Geburtstag des Komponisten fand im Dezember 2019 in Berlin ein Symposium statt, um das gehaltvolle Werk zu würdigen. Der hier besprochene Band enthält die Beiträge dieses Symposions. Sie bieten eine detaillierte und kenntnisreiche Ergänzung des Bandes „Gideon Klein-Materialien“.
Torso eines Lebens – Der Komponist und Pianist Gideon Klein (1919-1945), Hrsg. Albrecht Dümling. Bockel-Verlag 2020, Schriftenreihe „Verdrängte Musik“, 260 Seiten,
19,80 Euro