Gastbeitrag Mein Lieblingsallerbestes!

Ein kleines Plädoyer zur Verteidigung des Weihnachtsfestes in Zeiten von Kitsch, Kommerz und Krisen.

Foto: dpa/Peter Gercke

„An Weihnachten könnte man glatt vom Glauben abfallen.“ – So stand es vor wenigen Tagen, mitten im Advent, in der „Neuen Zürcher Zeitung“, untermauert mit einer langen Liste von Argumenten, Mängeln und Einwänden, mit Kritik an Kitsch und Kommerz, an historischen Ungenauigkeiten und Unwahrheiten. Die vorweihnachtliche Schimpflitanei konnte mir die Vorfreude freilich nicht verderben. Dafür ist Weihnachten zu groß und zu einzigartig, zu schön und zu bewegend. Weihnachten ist, wie die Kinderbuchautorin Lauren Child einmal so schön und so überschwänglich schrieb, mein „Lieblingsallerbestes“! Warum? Ich habe drei gute Gründe: einen frommen, einen biografischen und einen politischen.

Der fromme Grund: Gott ist Mensch geworden! Müsste man einem gänzlich Unwissenden das Christentum erklären (und genau das wird ja immer notwendiger, weil es eine christliche Sozialisation kaum noch gibt und immer mehr Menschen uns mit aufrichtiger Neugierde nach dem Wesen unseres Glaubens fragen), sollte man mit dem Weihnachtsgeschehen beginnen. Denn unser Glaube ist ja keine Ideologie und keine Philosophie, keine Morallehre und keine Esoterik. Unser christlicher Glaube ist verankert in der Geschichte selbst, er steht in enger Beziehung zu einem realen historischen Ereignis, der Geburt Jesu, zum irdischen Wirken des Gottessohnes und schließlich zu seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung.

Gott ist nicht fern und unnahbar

Vielleicht wäre es am besten, man würde es noch weiter zuspitzen und etwa sagen: Das Christsein ist am ehesten vergleichbar mit einer familiären Beziehung, mit einer tiefen Freundschaft, mit einer großen Liebe. Denn das geht heute allzu schnell unter, fürchte ich, wenn wir immerfort über die Kirche und ihre (auch selbst verschuldeten) Krisen, über Reformen, Strukturen und Gremien sprechen: Gott ist nicht fern und unnahbar, nicht furchteinflößend und einschüchternd. Nein, Gott ist – was für ein ungeheures Ereignis! – als Mensch in diese Welt eingetreten, er will uns nahe sein, er kennt das menschliche Leben, er kennt einen jeden Einzelnen von uns. Christus ist mein Freund, Christus ist meine große Liebe – diese tiefe Bindung und Beziehung beginnt mit dem Weihnachtsgeschehen vor 2000 Jahren und wirkt bis heute fort.

Rainer Maria Kardinal Woelki (63) ist seit 2014 der 95. Bischof des Erzbistums Köln. In der Stadt wurde er auch 1956 geboren und 1985 zum Priester geweiht. Von 2011 bis 2014 war Woelki Erzbischof von Berlin. 2012 ernannte Papst Benedikt XVI. ihn zum Kardinal.

Foto: Erzbistum Köln

Nichts berührt uns so wie das wiederkehrende Weihnachtsfest

Der biografische Grund: Weihnachten ist Teil unseres Lebens. Das ist durchaus praktisch gemeint. Weihnachten kehrt Jahr für Jahr wieder, es schließt sich der Jahreskreis so wie an unserem Geburts- oder Namenstag, am Tag der Eheschließung oder – in meinem Fall – am Jahrestag meiner Priesterweihe. All das berührt uns, weil wir daran das Fortschreiten der Zeit und das eigene Älterwerden erleben, doch ich behaupte: Nichts berührt uns so sehr wie das wiederkehrende Weihnachtsfest. Dabei spielt eine Rolle, dass wir es auch gemeinsam erleben und in einer Welt der zersplitterten Erfahrungen und des exzessiven Individualismus hier noch ein seltenes, gemeinsames Innehalten stattfindet. Weihnachten ist beides, eine kollektive, aber auch eine ganz persönliche Erfahrung, die uns in den Tiefen unserer Seele berührt.

Dass Weihnachten zugleich so ungemein sinnlich ist und sich verbindet mit Liedern und Melodien, mit bestimmten Gerüchen und Gerichten, mit Kerzen und Lichtern mitten in der dunkelsten Jahreszeit, diese Sinnlichkeit sollte man nicht als Kitsch oder Rührseligkeit abtun, denn sie trägt ja gerade dazu bei, so viele Erinnerungen in uns wachzurufen, sie schickt uns Jahr für Jahr auf eine gedankliche Reise durch unser eigenes Leben. Wann stehen uns je die eigenen Kindheitserinnerungen so deutlich vor Augen? Wann lassen wir uns so mitreißen und anstecken von der Freude anderer? Und weil wir vor Gott keine Show abziehen müssen, sondern ganz so sein dürfen, wie wir tatsächlich sind (er kennt uns nämlich sowieso), dürfen wir auch von unserer Traurigkeit sprechen, die ebenso dazugehört: Wann vermissen wir schmerzlicher diejenigen, die gestorben sind, als gerade jetzt, zu Weihnachten? Wann leiden wir mehr unter zerbrochenen Beziehungen? Wann fühlen wir uns einsamer? All das ist viel mehr als Sentimentalität oder Nostalgie, man sollte es ganz ernst nehmen und kann es so annehmen, wie es ist: Weihnachten führt uns durch unser Leben, durch die Höhen und Tiefen unserer Biografie, durch die guten und unguten Erinnerungen, durch unsere ganze weitläufige Gefühlswelt.

Der politische Grund: Weihnachten ist ein Weckruf, ein Appell zum Handeln. Der fromme Glaube allein macht noch keinen Christen; unser Glaube ist keine Privatsache, sondern politisches Programm. Und dieses Programm heißt Nächstenliebe, Hingabe, Christusnachfolge. Angelus Silesius, ein schlesischer Dichter und Theologe, schrieb vor über 350 Jahren: „Und wäre Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir – du wärst doch ewiglich verloren.“ Mit anderen Worten: Weihnachten ist einerseits das historische Geschehen, die Geburt Jesu in Bethlehem vor über 2000 Jahren, doch Weihnachten muss auch in der Gegenwart stattfinden, im Hier und Jetzt, in unserer Welt und in unserem Herzen. Und dabei kommt es ganz auf uns selbst an, wir selbst müssen die so verstandene Weihnacht möglich werden lassen.

Veranschaulicht wird das sehr schön in einem franziskanischen Gebet aus dem 14. Jahrhundert: „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Er hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen.“ Was für wirkmächtige Bilder das sind! Christus will also durch uns in dieser Welt wirken.

Anders gesagt: Das Reich Gottes ist kein schönes Luftschloss, das wir anhimmeln, sondern eine tägliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen, in der Hilfe für den Nächsten, der Bekämpfung der Armut, der Bewahrung der Schöpfung, der Aufnahme von Flüchtlingen, der Fürsorge für Kranke und Sterbende, in der alltäglichen Vergebung und Versöhnung, in der unermüdlichen Arbeit für Frieden in der Welt. Erst wenn wir uns selbst in diesen Dienst stellen, kann Christus auch heute konkret erfahrbar werden, nicht nur als historisches Ereignis, als frommes Geschehen oder biografische Erinnerung, sondern als liebevolle und heilende Kraft in einer verwundeten und leidenden Welt. Die Krippe, auf die wir auch dieses Jahr Weihnachten wieder mit so vielen Gefühlen, Assoziationen und Erinnerungen schauen, diese Krippe steht in Wahrheit mitten in unserem Leben. Dort wird der Heiland geboren, dort beginnt das Reich Gottes auf Erden, und wir selbst dürfen daran mitwirken.

Chance, den christlichen Glauben kennenzulernen

Zurück zum Ausgangspunkt: An Weihnachten könnte man glatt vom Glauben abfallen? Unsinn. Man kann den Gedanken getrost auf den Kopf stellen: Weihnachten ist, Jahr für Jahr und immer aufs Neue, die wunderbare Chance, den christlichen Glauben kennenzulernen, sich doch wieder einzulassen auf diese geheimnisvolle Liebesbeziehung, auf das Geschenk, das uns so unverdient zugefallen ist: Gott wird Mensch und geht unseren Weg mit. Und die Engel, um unsere Ängste und Schwächen wissend, rufen uns dabei ermutigend zu: „Fürchtet euch nicht!“

Die Weihnachtsfreude sollten wir uns nicht nehmen lassen, von nichts und niemandem. In einer Welt, in der es oft scheint, als würden Feindseligkeit und Unversöhnlichkeit wachsen, als würden wir von anonymen Kräften auseinandergetrieben, entpuppt sich gerade Weihnachten bei näherem Hinsehen als globales und grenzenloses, als konfessions- und oft sogar religionsüberschreitendes Fest, das Menschen zusammenführt und der rastlosen Welt eine beruhigende Atempause schenkt. In einem Wort: Weihnachten ist und bleibt die christliche Initialzündung, die biografische Sternstunde und der Aufbruch zu mehr Menschlichkeit. Weihnachten ist und bleibt mein „Lieblingsallerbestes“!