Fussball 99 Minuten und 30 Sekunden Wunder
Bockum/Uerdingen · Das Spiel zwischen Bayer 05 Uerdingen und Dynamo Dresden aus dem Jahr 1986 ist inzwischen in voller Länge im Internet zu finden. Wer es sich jetzt ansieht, wird neben zehn Toren einen herrlich schlecht vorbereiteten Kommentator, erstaunliche Bandenwerbung und einen prominenten Strichlisten-Führer erleben.
Rolf Kramer ist kein Mann, dem man den Hang zu unnötiger Euphorie vorwerfen kann. Es ist das Viertelfinal-Rückspiel des Europapokals der Pokalsieger zwischen Bayer 05 Uerdingen und Dynamo Dresden. Die Dresdener hatten die erste Begegnung 2:0 gewonnen und führten in der zweiten Partie 3:1 zur Pause. Als Uerdingen all das aufgeholt hat, sagt er: „Noch ist nichts entschieden.“
Das größte Spiel in der Geschichte des Uerdinger und des Krefelder Fußballs gibt es erst seit vier Jahren in voller Länge auf Youtube. Zuvor waren verschiedene Kurzfassungen und eine Doku des WDR verfügbar. Und so haben sich auch erst knapp 20 000 Menschen das Video angeguckt, 96 haben anschließend auf den Daumen nach oben gedrückt, drei auf den nach unten. Das Spiel an sich ist höchst unterhaltsam, weil beide Mannschaften spielen wie zwei Boxer kämpfen, die gerne hauen, aber nur ungern die Deckung hochnehmen. Dennoch bleibt Zeit, sich mit all den Dingen zu beschäftigen, die nichts oder nur am Rande mit den zehn Toren zu tun haben und die einem eindrucksvoll vor Augen führen, wie Europapokalspiele und Fußball im Fernsehen vor 34 Jahren aussahen, als das Wort Champions League und all das damit verbundene Gedöns noch lange nicht erfunden waren.
Das gilt schon für die ersten Sekunden des Videos, in denen der Moderator im Studio zu sehen ist. Es ist die erste Live-Übertragung eines Spiels aus der Grotenburg, dem Moderator ist die Premiere aber leicht unangenehm. Er entschuldigt sich bei den Zuschauern, dass nicht das Bayern-Spiel gezeigt wird. Uerdingen habe ein Heimspiel, da sei nichts zu machen. Er gibt rüber ins Stadion, in das die Mannschaften schon vor einigen Minuten eingelaufen sind und direkt loslegen. Es gibt kein großes Drumherum. Das Spiel ist zwar komplett zu sehen, dennoch ist das Wunder-Video bei Youtube nur 99 Minuten und 30 Sekunden lang.
Kommentator Krämer scheint auch nicht begeistert gewesen zu sein, als er erfuhr, dass er aus Uerdingen übertragen darf. Übermäßig engagiert wirkt er jedenfalls nicht, die meisten Angaben schätzt er eher, etwa wie viele Ecken es bisher gegeben hat („Ich glaube sieben“) oder gegen wen Uerdingen am darauffolgenden Samstag in der Bundesliga spielt („Ich glaube gegen den HSV“). Er merkt sich auch nicht unnötig viele Namen. Dresden muss in der zweiten Halbzeit einen neuen Torwart bringen. Er heißt Jens Ramme, bei Kramer aber durchgehend „der junge Mann“. Bei den Ecken gibt es gegen Ende doch noch eine präzise Zahl, die verdankt der Kommentator einem jungen Kollegen, der offenbar eine Strichliste geführt hat: Bela Rethy, der damals 29 Jahre alt war und später diverse EM- und WM-Endspiele kommentierte.
Kramers Gedächtnis ist eigentlich ein gutes, denn gleich mehrere Male pflegt er die Heribert-Fassbender-Gedächtnisformulierung „Die Älteren von Ihnen werden sich erinnern...“ und erzählt von früheren Sportereignissen. Auch andere Details mag er sehr. Gleich zwei Mal berichtet er, dass Uerdingens Trainer Kalli Feldkamp am nächsten Tag einen Termin hat, weil er Weisheitszähne gezogen bekommt, und dass der Isländer Larus Guodmundsson sich einen „Bubischnitt“ zugelegt hat.
Bei der Betrachtung des Spielgeschehens kommt Kramer mit zweieinhalb Thesen gut über die Zeit: Der Dresdner Torwart hat Probleme bei hohen Bällen. Dresden ist auswärts schwächer als daheim. Und Uerdingen hat keine Chance, das hier noch umzudrehen. Auch als das 4:3 fällt, zeigt Kramer noch kein Interesse an Hoffnung. Er verweist darauf, dass die erste Halbzeit viel Kraft gekostet hat. Von den fleißig rennenden und kämpfenden Uerdingern lässt er sich seine Feststellung vorerst nicht unnötig gefährden.
Mit der Betrachtung der vielen schönen Details ist es zu diesem Zeitpunkt vorbei. Dafür ist nach dem 1:1 in der 13. Minute und nach der Pause bis zum 2:3 zum Glück ein wenig Zeit. Und so sieht man, dass damals noch eine Aschenbahn rund um den Platz führte, dass dort, wo heute die Coaching-Zone ist, eine Sandgrube für Weitspringer war. Und dass es nur einen Spielball gab, aber keine offiziellen Balljungen. Bisweilen dauert es ein bisschen, bis der Ball wieder da ist. Als es hektisch wird, laufen die Spieler selbst, um ihn zu holen. Der Platz vermittelt schon zu Beginn des Spiels einen präzisen Eindruck davon, wo sich die Akteure in den vorherigen Partien gerne und viel aufgehalten haben. Immer wenn jemand nach einem Foul liegen bleibt, eilt ein Mann herbei, der aussieht, als käme er aus einem Feldlazarett, und legt sofort eine graue Decke über den Spieler. Die Banden am Spielfeldrand sind aus Holz und haben einen klaren inhaltlichen Schwerpunkt. Darauf steht Werbung für Ouzo, Korn, Kräuterschnaps und Eierlikör.
Auch die Regeln sind noch andere. Der Rückpass zum Torwart ist erlaubt, die Rückennummern gehen von 1 bis 11, nur zwei Auswechslungen sind möglich. Das beschert den Dresdnern Probleme, da der damals 18-jährige und noch mit Haupthaar versehene Matthias Sammer früh runter muss und Torwart Bernd Jakubowski verletzt in der Kabine bleibt. Für ihn kommt der junge Mann.
Zwischendurch wird auch klar, dass die Mauer noch nicht gefallen ist. Im nicht ausverkauften Stadion sind auch Menschen, die Dresden anfeuern. Sie sind allerdings nicht aus Dresden gekommen, sondern haben nach Angaben des Kommentators mal in Dresden gelebt, wohnen nun aber in Süddeutschland oder der Schweiz.
Bei jeder Vorrunde zur Qualifikation für die Playoffs zur Gruppenphase der Europa-League werden heute diverse Minuten vor, mitten im und nach dem Spiel gesendet und besprochen. Im März 1986 gab es im Wesentlichen eine Kamera, die in Höhe der Mittellinie filmte, nach einem Tor exakt eine Zeitlupe. Keine Uhr im Bild, kein Spielstand in der oberen Ecke, kein Vorgeplänkel, keine Halbzeitanalyse. Und am Ende nur drei Minuten Interview mit (natürlich) Rolf Töpperwien, der die Protagonisten (Feldkamp, Herget, Funkel) alle auf einmal befragt. „Ihr größtes Spiel als Fußballer bisher?“, fragt er Funkel. „Ja, auf jeden Fall.“