Krefeld Ehrmann geht nachdenklich

Der 65-Jährige verlässt die politische Bühne und sinniert über Rechtspopulismus, Fehler der Politik und Hoffnung in die Jugend.

Foto: Dirk Jochmann

Krefeld. Das Haar trägt Siegmund Ehrmann dieser Tage etwas länger. Ruhestandsvorboten. „Vielleicht ist das so“, sagt der Neukirchen-Vluyner und lächelt. Der 65-Jährige wirkt entspannt, er spürt den Wahlkampfstress eher als naher Beobachter. Spätestens Montag beginnt für den Sozialdemokraten ein neuer Lebensabschnitt. Vier Legislaturperioden, drei davon in Regierungsverantwortung, hat der Kulturpolitiker in Berlin erlebt, gelitten, gefeiert, mitgestaltet. Jetzt ist Schluss, und das, findet Ehrmann, ist gut so.

Ein letztes Mal in politischer Funktion schaut Ehrmann bei der WZ vorbei. Für eine Bilanz sei es allerdings früh, meint er. Aber darum geht es auch nicht. Über die aktuelle Politik, den Wahlkampf-Endspurt, wollen wir gar nicht reden. Eher darüber, dass eine Persönlichkeit die Bühne verlässt, die sich in den letzten 15 Jahren in Berlin für Krefeld stark gemacht hat. Ehrmann, und das ist seine Art, dreht den Spieß schnell um: „Es ist nicht selbstverständlich, dass mir die Wählerinnen und Wähler viermal das Vertrauen geschenkt haben, dafür bin ich zutiefst dankbar, und ja, das macht mich auch ein bisschen stolz.“

Vier Perioden, vier Phasen, die der Sozialdemokrat ganz unterschiedlich erlebt hat. „Zunächst ging es darum, sich selbst kundig und bekannt zu machen, parallel gab es viel Kritik von den Gewerkschaften wegen der Agenda 2010, die ich im Übrigen immer vertreten habe. Dann kam die große Koalition von 2005 bis 2009, in der die Agenda weiter umgesetzt wurde, schließlich die Oppositionsphase.“ Und in der, sagt Ehrmann, habe er eine Menge gelernt. „Franz Müntefering hat mal gesagt, Opposition ist Mist. Das stimmt im Parlament, weil man keinen direkten Einfluss auf Entscheidungen nehmen kann. Aber Opposition ist auch gut, wenn man sie als Regierung im Wartestand versteht und die Zeit für sich nutzt. Das ist unsmit Frank-Walter Steinmeier als Fraktionschef sehr gut gelungen, wir waren gut vorbereitet auf die nächsten Wahlen.“

Siegmund Ehrmann

In der hatte Kanzlerkandidat Steinbrück zwar ebenfalls keine Chance gegen die ewige Angela Merkel, aber die Genossen durften wieder mitbestimmen. Ehrmanns letzte Phase, bis heute.

Der Kultur-Experte ist in diesen Tagen ein sehr nachdenklicher Mensch. Reflektiert war er schon immer, besonnen, ruhig und konkret in der Ansprache. Jetzt mischen sich Sorgen um die Gesellschaft in seine Gedanken. Mehr noch: „Der Verlust an staatsbürgerkundlichem Wissen beunruhigt mich dramatisch. Die mangelnde Wertschätzung eines stabilen Regelwerks, von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“ Natürlich blickt Ehrmann hier auf das Erstarken der Rechtspopulisten. „Die rechte Revolution dient ausschließlich der Dekonstruktion des Staates.“ Die sei zwar in einigen Nachbarländern wie Frankreich, Italien, Griechenland oder den Niederlanden noch weiter fortgeschritten, aber man könne dieses Phänomen ohnehin nicht national sehen, sondern nur als Europäer. „Und dann stellt sich die Frage: Was bedeutet das für unser Land? Und wo steht in der sich wandelnden Parteienlandschaft die Sozialdemokratie?“

Vielleicht, sinniert Ehrmann, „müssen wir, müssen die etablierten Parteien antizipieren, dass das, was wir gut meinen, völlig anders bei den Menschen ankommt“. Jenseits der Parteipolitik registriert Ehrmann, dass Menschen sich nicht verstanden, nicht abgeholt fühlen. „Und das ist ganz klar unsere Verantwortung.“ Und diese Unverstandenen könnten eben auch AfD wählen. „Die Soziologen unterstellen etwa 15 Prozent der Gesellschaft rechtes Gedankengut.“ Viele von ihnen hätten möglicherweise sonst eher nicht gewählt, würden nun aber mobilisiert.

Politik, wünscht sich Siegmund Ehrmann, müsse ihre Qualität erhöhen. „Ich wünsche mir, dass mehr Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Zusammenhängen Zeit für Politik finden. Auch in der Kommunalpolitik.“ Und die müssten es dann auch „draufhaben, die spannende Geschichte von Parlamentarismus und Politik vor Ort zu erzählen. Sie müssen selbst stattfinden und Erfahrer sein, Kümmerer.“

Siegmund Ehrmann

Dazu fehle oft die Zeit, aber: Politik versuche zuweilen eben auch die bessere Verwaltung zu sein. „Es reicht völlig aus, den Experten auch mal zu vertrauen und die professionelle Vorarbeit als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. Und sich sonst darauf zu konzentrieren, ansprechbar zu sein für Bürger.“ Wenn das passiere, sei es gut. „Dann kommt es im Zweifel nicht auf die Partei an.“

Sorgen macht Ehrmann zudem die Entwicklung in der Nachrichtenverbreitung. „Die Echo-Räume etwa in den sozialen Medien haben ihre eigene Dynamik. Ich habe viel zu oft den Eindruck, dass Menschen dort in ihren Denk-Kategorien gefangen und gefördert werden.“ Darum sei der Qualitätsjournalismus wichtig wie nie. „Die seriösen Medien sind konstitutiv für die Stabilität unserer Demokratie mitverantwortlich.“ Dabei gelte es, einiges auszuhalten. Wer nicht pauschal alles in die Tonne kloppe, setze sich ja fast schon automatisch dem „latenten Vorwurf aus, dem System zugeneigt zu sein“.

Ehrmann ist nachdenklich, aber auch der Optimist, der er immer war. „Was mir Freude bereitet: Es gibt so viele junge Menschen, die sich für unsere Gesellschaft, das System und den Rechtsstaat sehr interessieren.“ Das gibt Hoffnung.