Ein Krefelder und seine Leidenschaft Tyrannosaurus Willi
Krefeld · Der 73-jährige Hans-Willi Neubauer hat schon Bodybuilding gemacht, als Adenauer gerade von der Kanzlerschaft zurückgetreten war.
Es soll um Willi gehen, aber nicht um diesen, doch gut, nun ist er eben da. Der Willi, um den es nicht gehen soll, steht mit dem Willi, um den es gehen soll, in einem holzvertäfelten Raum voller Fitnessgeräte. Willi trägt einen dünnen Mafiosi-Bart, verblassende Tätowierungen und ein Muskelshirt, das den Blick freigibt auf seine überdurchschnittlich ausgeprägten Muskeln. Nach einer Viertelstunde weiß man auch alles andere über ihn, nach dem wenigsten muss man fragen. Willi Odenthal aus Duisburg, 65, von Beruf Security bei einem Unternehmen, Türsteher gewesen, nach Erreichen der Silberhochzeit diverse Freundinnen, Rolle im Tatort, aus Leidenschaft Bodybuilder, mehrfacher deutscher Seniorenmeister, Eiweißprodukten zugeneigt, und er sagt, die Leute rasten aus, wenn er auf der Bühne seine Roboterposen macht. „Die Halle hat gebebt.“ Arnold Schwarzenegger habe er ein paar Mal getroffen, ganz bescheidener Typ. Sylvester Stallone hingegen ließ das komplette Fitnessstudio räumen.
Währenddessen sagt der Willi, um den es gehen soll, Hans-Willi Neubauer, Krefelder, Linner, fast nichts oder kommt nicht dazu, was zu sagen. Sitzt auf einer Bank. Steht im Raum. Drückt Gewichte. Aber sein Blick sagt zu keinem Zeitpunkt, nicht die Winzigkeit einer Sekunde: „Du weißt aber schon, dass der Journalist meinetwegen da ist, oder?“ Er kennt das nicht anders. So ist die Rollenverteilung, wenn die beiden zusammen sind. Sogar die Facebook-Seite hat Willi aus Duisburg dem Willi aus Krefeld eingerichtet. Die meisten Beiträge dort stammen von Odenthal, er hat Neubauer einfach immer markiert. Es gibt viele Fotos, auf denen sie zusammen zu sehen sind, im vergangenen Jahr haben sie zu Weihnachten eines für ihre Facebook-Freunde aufgenommen. Beide tragen eine Weihnachtsmannmütze, haben sich eine Ankerkette um den Hals gelegt und den Bizeps angespannt. Beinahe süß ist das.
Den Willi, um den es gehen soll, unterscheidet vieles vom anderen Willi. Keine Tätowierung, kein Bart, seit mehr als 50 Jahren verheiratet, jetzt Rentner, früher Gärtner. Isst lieber Hausmannskost als Proteinprodukte. Aber zwei Dinge haben sie gemeinsam: die Besessenheit vom Bodybuilding und das hohe Alter. Der andere Willi sagt: „Wir sind im Prinzip Dinosaurier.“ Wobei Neubauer noch älter ist, in einigen Wochen wird er 74. Dass er bei 1,67 Meter fast 80 Kilogramm wiegt, liegt ganz allein daran, dass Muskeln schwerer sind als Fett. Wo andere einen Nacken haben, hat er eine Staumauer. Als er mit dem Bodybuilding anfing, war Konrad Adenauer gerade als Bundeskanzler zurückgetreten.
Weil das so besonders ist, hat der Journalist Christoph Cöln ihn für das gerade erschienene Buch „Reife Leistung“ porträtiert, in dem es um Leistungssportler über 70 geht. „Willi ist fürs Bodybuilding prädestiniert“, sagt der andere Willi. Wenn andere zwölf Wiederholungen machen, mache er 13. „Die Natur hat mir so viele Voraussetzungen gegeben“, sagt Willi. Gute Gene also. Noch heute kann er zum Beispiel ohne Probleme Folgendes machen: sich eine Ankerkette um den Hals legen und dann am Barren mehrfach hochdrücken. Danach atmet er nicht einmal schwer.
Wenn der andere Willi ihn lässt, kann er durchaus reden. Dann kommt kein „g“ am Wortanfang über seine Lippen. Dann gibt es nur „Jeräte“ und „Jarten“ und „jeworden“. Das Studio, in dem sie an diesem Tag trainieren, gehört ihm. Er hat es im Hinterhof seines Hauses eingerichtet, über Jahrzehnte. Heute sind Brust und Bizeps an der Reihe. Auf dem Boden stehen die Geräte, in den Regalen Pokale. An den Wänden hängen Urkunden, die älteste von 1966, außerdem Medaillen und Fotos, Fotos, Fotos. Vor allem von Willi, nur in der knappen Bodybuilder-Badehose, Fotos aus sechs Jahrzehnten, Willi immer muskulös, immer in Pose. Bei einem Bodybuilder weiß man nie, ob er diese Posen macht, weil er sich unfassbar geil findet oder weil das eben die Posen sind, die die Wertungsrichter sehen wollen. Ein Ausmaß an Bescheidenheit ist er jedenfalls nicht. Seine Platzierungen der vergangenen Jahrzehnte kann er aufsagen, als habe man sie in seinen Kopf gepflanzt.
Die ersten Muskeln hat sich Willi nicht im Fitnessstudio erarbeitet, sondern im Garten. Sein Vater war Gärtner, hatte einen eigenen Garten. Willi hilft ihm schon früh beim Graben. 3300 Quadratmeter, es gibt also eine Menge zu graben. „So einen Jarten hast Du noch nicht gesehen. Wie schön dat alles aussah.“ Die Blumen muss er in einer Karre kilometerweit zum Markt ziehen. In seiner Jugend ist er ein guter Ringer und Gewichtheber, doch mit 18 überzeugt ihn der Betreiber eines Fitnessstudios, es mit Bodybuilding zu versuchen. Dabei bleibt er. „Es lag mir einfach“, sagt er heute, „ich konnte da gewinnen.“ Das reicht ihm als Erklärung für seine Begeisterung.
1967 nimmt er in München an Mr. Germany teil, der deutschen Meisterschaft im Bodybuilding, und gewinnt den Titel in der Juniorenklasse. Mit ein paar anderen Bodybuildern zieht er danach noch um die Häuser und ins Hofbräuhaus. Unter ihnen ist auch ein junger Österreicher, der damals bloß anderen Bodybuildern ein Begriff ist. Wenig später gewinnt Arnold Schwarzenegger in London den Titel des Mr. Universum, zwei Jahre später dreht er in den USA seinen ersten Spielfilm. „Er wirkt nur so groß“, sagt Willi. Während Arnold in die große Welt geht, bleibt Willi in Krefeld. Er wird Gärtner wie sein Vater und führt bei der Stadt die Friedhofskolonne an. Im Winter hacken sie den gefrorenen Boden auf. Nach Feierabend arbeitet er noch im Garten seines Vaters, den er nach dessen Tod erben wird. Und danach geht er noch trainieren. Strenge Diät hält er nur, wenn ein Wettbewerb ansteht. Illegale Substanzen nimmt er nie, sagt er. Wenn er in den Urlaub fährt, setzt er mal ein paar Tage aus mit dem Training, aber nicht länger. Sonst müsste er fast wieder bei Null anfangen.
Doch weil sich ein Job als Friedhofsgärtner und ein Zweitjob als selbstständiger Gärtner nur bedingt mit Trainingsplänen vertragen und Willi aus dem Hobby nie eine Karriere machen will („Ein Hobby soll ein Hobby bleiben, sonst endet dat im Stress“), kommt seine große Zeit erst, als er in Rente geht. Mehrfacher Deutscher Meister bei den Senioren, Vize-Europameister, Dritter bei den Weltmeisterschaften in El Salvador 2015. Reisewarnung wegen Vulkanausbrüchen und hoher Kriminalität, sagt Willi. Im Bus, von Schüssen durchsiebt, passen Leute mit Maschinengewehr auf. Man muss allerdings sagen, dass in seiner Altersklasse bei der WM nur drei weitere Bodybuilder antreten. Es bleiben einfach nicht mehr so viele, wenn man 70 ist.
Vor einigen Jahren wurde Willis Altersklasse in seinem Verband abgeschafft. Er müsste nun gegen viel jüngere Sportler antreten, schlimmstenfalls sogar gegen 55-Jährige. Das lässt er lieber bleiben, denn er tritt an, um zu gewinnen. Nur in den USA gibt es noch einen Verband mit Wettbewerben in seiner Klasse. Da will er noch hin. „Ich würde mein Auto setzen, dass der Willi gewinnt“, sagt der andere Willi. Aber auch ohne Wettbewerb fehlt es ihm nicht an Motivation. „Ich würde krank werden, wenn ich nicht trainiere.“ So wie es anderen schwer fällt, Sport zu machen, fällt es ihm schwer, keinen Sport zu machen. „Wenn ein Mensch sich nicht mehr bewegt, zerfällt er.“
Willi zerfällt nicht. Er trainiert heute nicht viel weniger als früher, sagt er, knapp viermal pro Woche. Andere haben in seinem Alter eine künstliche Hüfte, künstliche Gelenke und Herzbeschwerden. Das Einzige, was bei Willi ausgetauscht wurde, sind die Zähne. Die Narbe an seinem Rücken hat er, seitdem er als Kind von einem Motorrad angefahren wurde. Das einzige Körperteil, das einen realistischen Hinweis auf sein Alter gibt, sind die Hände. Einmal schickte ihn seine Frau zur Hausärztin, um sich durchchecken zu lassen. Die Ärztin fragte ihn, was er wolle, er habe doch nichts. Nur den Garten hat er abgegeben, an eine seiner beiden Töchter. Weil er sonst auf die vier bis fünf Reisen verzichten müsste, die er pro Jahr mit seiner Frau unternimmt.
Willi wohnt seit 40 Jahren im selben Haus in der Linner Altstadt. Es steht unter Denkmalschutz, ist 400 bis 500 Jahre alt, ein Fachwerkhaus. Jede Generation hat daran gearbeitet, sagt er. Es muss eben immer was daran getan werden, damit es erhalten bleibt. Zuletzt hat er mit Freunden die Fassaden gestrichen. Es sieht beinahe aus wie neu. Willi sagt, er habe in den vergangenen Wochen noch an Muskeln zugelegt.