Kampf um Kernkompetenzen

Die Alltagskompetenz einiger Kinder ist dürftig. Manche Lehrer müssen für Eltern einspringen.

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Krefeld. Schüler in Deutschland sind beim kreativen Lösen von Problemen zwar international leicht besser als der Durchschnitt — doch fast ein Fünftel ist mit dem Alltag überfordert und scheitert an einfachen Aufgaben. Das ergab der fünfte Pisa-Schulvergleichstest. Die WZ fragte die Leiter verschiedener Schulen in Krefeld, wie es mit den Alltagskompetenzen aussieht.

Können die Jugendlichen heutzutage eine Fahrkarte lösen oder eine Gebrauchsanweisung lesen und verstehen? Werden sie im Elternhaus angeleitet oder muss die Schule neben Mathe und Englisch auch andere Fähigkeiten vermitteln?

Die Antwort auf die letzte Frage ist ein klares „Ja“ — und bezieht sich nicht nur auf die Kompetenz des Fahrkartenziehens.

„Es werden immer mehr Erziehungsaufgaben auf die Schulen abgewälzt“, berichtet Michael Schütz, Leiter der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule. „Es muss in die Köpfe der Eltern gehen, dass es ihre Kinder sind, dass sie mit im Boot sitzen. Wir sind keine Super-Nannys, aber wir tun unser Bestes. Das bindet Ressourcen. Wir könnten die Zeit sinnvoller einsetzen.“ Sich schlicht an Regeln zu halten, sei ein Teil der Sozialisation.

Es sei eine Entwicklung, die seit den vergangenen Jahrzehnten beobachtet werde, berichtet Schütz weiter. Die Eltern glaubten oft, dass nach einem Ganztag bis 16 Uhr nichts mehr zu tun sei. Oft seien sie auch hilflos. „Viele Mütter können nicht kochen und nicht erziehen. Ein Beispiel: Wir kümmern uns ab Klasse acht um die Berufswahlorientierung, dabei ist die Unterstützung der Eltern mal vorhanden, mal nicht. Und es fühlt sich an, als ob die Tendenz, Erziehungsaufgaben an die Schule zu verlagern, steigt.“

Ute Eißing-Schroers leitet die Realschule Horkesgath. „Wer definiert die Alltagskompetenzen, wer setzt sie fest?“, fragt sie. „Wenn die Kinder ein ,Schokoticket‘ besitzen, können sie acht Jahre durch die Gegend fahren, ohne ein neues zu brauchen. Die Eltern haben den Antrag einmalig ausgefüllt. Und wer fährt heute noch mit dem Zug, wenn ein Auto vor der Türe steht? Die Kinder haben zwar die Rufnummer der Eltern nicht im Kopf, können sie aber mit dem Handy abrufen.“ Und statt eines Briefes würden heute Mails verschickt.

Die Welt verändere sich schneller, findet die Pädagogin. „In vielen Dingen sind uns die Kinder weit voraus. Sie müssen jetzt lernen, verantwortungsvoll mit modernen Dingen wie Internet und Chatrooms umzugehen.“ Mit Kindern von Migranten, die aus anderen Kulturen und Welten kommen, gehen die Pädagogen in die Stadt, um die Alltagskompetenzen zu vermitteln. „Arztbesuch, Fahrscheinkauf, wen spreche ich an, wenn ich mich verlaufen habe? Die Zuwandererkinder müssen die Wege erproben“, erklärt Eißing-Schroers.

Nicht alle Eltern würden Zug oder Straßenbahn fahren, sagt auch Hildegard Reintges, Schulleiterin an der Grundschule Horkesgath. „Das ist auch nicht unsere Altersgruppe. Wir beschäftigen uns damit, dass die Kinder lesen lernen, auch den Fahrplan. Das ist Lehrstoff.“

Die Mädchen und Jungen könnten heute auch andere Dinge, sagt die Lehrerin: „Sich selbst behaupten, für die Meinung einstehen, gehört dazu.“

Sie seien aber auch eher ich-bezogen und müssten nun lernen, Respekt vor Menschen und Sachen zu haben. Einzelkinder würden erfahren, dass in der Gruppe andere Regeln herrschen und müssten wissen, wie Konflikte gelöst werden. Das gehöre zur Sozialerziehung.

Schul- und Zahnarzt, Gesundheits- und Sexualerziehung, Berufsvorbereitung in allen Fächern, Aids-Aufklärung. „Neben den Fachkompetenzen wird immer mehr auf die Schulen abgewälzt“, sagt Heike Otto-Lauscher, stellvertretende Schulleiterin der Gesamtschule Kaiserplatz. „Wir bringen den Mädchen und Jungen Sozialkompetenz und Teamfähigkeit seit vielen Jahren bei. Die Verantwortlichkeit liegt in der Schule.“

Es würden Werte vermittelt, ganz unabhängig von Pisa. Gerade auch im Religionsunterricht. „Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht taufen, aber froh sind, wenn wir diesen Unterricht erteilen.“ Otto-Lauscher: „Wir haben schließlich einen Bildungs- und Erziehungsauftrag.“ Mit einem Lächeln fügt sie hinzu: „Wenn die Kinder schlecht sind, ist die Schule schuld; sind sie gut, ist es das Verdienst des Elternhauses.“