Arm trotz Arbeit Kerstin B. aus Krefeld: Trotz 40-Stunden-Woche reicht das Geld nicht
Krefeld · Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände sind alarmiert: Jeder fünfte Arbeitnehmer in Krefeld wird unterhalb der Niedriglohnschwelle bezahlt. Kerstin B. erzählt aus ihrem Alltag.
Kerstin B. hat einen guten Vorsatz fürs neue Jahr: noch mehr sparen. Auch, wenn sie nicht weiß, woran. Sie kauft ihre Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens schon sowieso im Discounter und achtet auf Sonderangebote. Die Kleidung, die sie trägt, ist selten neu, meist gebraucht, zum Beispiel aus Second-hand-Läden, aber auch mal von Tauschbörsen. Einen richtigen Urlaub hat sie seit Jahren nicht mehr gemacht. Sie besucht ersatzweise höchstens schon mal Verwandte in Deutschland.
Dabei geht die 34-Jährige Vollzeit arbeiten. 40 Stunden die Woche ist sie im Einsatz. „Aber am Ende meines Geldes ist noch sehr viel Monat übrig, wie man so sagt“, fasst sie ihre Situation mit Galgenhumor zusammen. Manchmal hilft ihre Mutter ihr in besonderen Notlagen finanziell aus. „Wenn etwas kaputt geht, habe ich nicht wirklich etwas auf dem Sparbuch oder so, das mir helfen könnte“, erklärt Kerstin B., die „sonst niemandem in der Familie und im Freundeskreis erzählt, wie es mir geht.“ Alle gingen davon aus, dass sie genug Geld habe, weil sie schließlich die ganze Woche im Job sei.
Fälle wie der von Kerstin B. machen Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden Sorgen. In Krefeld betrifft das Problem rund 11 700 Vollzeit-Beschäftigte, weil sie im Niedriglohnbereich arbeiten. Das sind 18,8 Prozent aller Beschäftigen in der Stadt. Die amtliche Niedriglohnschwelle liegt bei 2203 Euro vor Steuern und Abzügen im Monat.
Für Karim Peters, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Krefeld-Neuss, ist es ein „Alarmsignal“, dass jeder fünfte Arbeitnehmer trotz voller Stundenzahl unter der Schwelle liegt. Die Hauptursache sieht er in der abnehmenden Tarifbindung von Branchen und Betrieben. „Auch in Krefeld zahlten immer weniger Hoteliers und Gastronomen nach Tarif. In Bäckereien, Konditoreien, Fastfood-Betrieben, Restaurants und Hotels ist der Anteil von Niedriglohn-Beschäftigten besonders hoch“, berichtet Peters, „hier müssen die Firmen endlich deutlich höhere Löhne zahlen.“ Als Beispiel nennt der Gewerkschafter den Lohn eines gelernten Kochs, dem statt des Tariflohns von 12,50 Euro pro Stunde der Mindestlohn von 9,19 Euro gezahlt werde.
Um den Trend zu stoppen, müssten sich Firmen, die Mitglied im Arbeitgeberverband sind, laut Peters „an die mit der Gewerkschaft ausgehandelten Tarifverträge halten und armutsfeste Löhne zahlen“. Nach Beobachtung der NGG steigt die Zahl der Verbandsmitglieder, die aus der Tarifgemeinschaft ausscheren, seit Jahren.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dem die NGG mit weiteren sieben Gewerkschaften angeschlossen ist, sieht in Sachen Niedriglohn noch ein weiteres Problem: die Minijobs. Für den DGB gehen „Niedriglohn und Minijob oft Hand in Hand“. In Krefeld haben nach Informationen des Gewerkschaftsbunds im Jahr 2018 rund 13 350 Menschen ausschließlich in einem Minijob gearbeitet. In mehr als der Hälfte der Fälle war es eine zusätzliche Arbeit neben anderem beruflichen Tun. Rund 7180 Krefelder waren in einer solchen geringfügigen Beschäftigung, auf 450-Euro-Basis, ohne Sozialversicherung tätig.
Der DGB fordert vor diesem Hintergrund neben einer grundlegenden Reform der Minijobs Entlastungen für Menschen mit geringem Einkommen. „Statt des Wegfalls der Sozialversicherungsbeiträge fordern wir einen Zuschuss von bis zu 100 Euro im Monat, der als negative Einkommenssteuer ausgezahlt wird – und das bei vollem Schutz unter dem Schirm der Sozialversicherung“, sagt Phillip Einfalt, Vorsitzender des DGB in Krefeld. Denn von allen Minijobbern in Deutschland ließen sich 87 Prozent von der Rentenversicherung befreien. „Den Beschäftigten wird die Befreiung von der Sozialversicherungspflicht immer noch als Erleichterung verkauft. Dabei ist das ein faules Ei: Ein bisschen mehr Geld für den Lebensunterhalt müssen die Betroffenen mit geringem sozialen Schutz teuer bezahlen. Wer heute keine Rentenversicherungsbeiträge bezahlt, bei dem ist die Altersarmut quasi programmiert.“
Schon vorher müssten viele Menschen aufstocken. Über die Leistungen des Sozialgesetzbuches II (Hartz IV) hat der Staat laut DGB insgesamt zehn Millionen Euro zu den niedrigen Löhnen zugeschossen. „Die Zeche für das Lohn- und Sozialdumping zahlt die Allgemeinheit“, meint Einfalt. In Krefeld seien rund 1900 Minijobber auf zusätzliche staatliche Leistungen angewiesen gewesen.
Insgesamt sind rund 5100 Männer und Frauen in Krefeld, die Hartz IV beziehen, eigentlich in Arbeit. Angesichts dieser Zahl aus dem Jahr 2019 hat der Caritasverband für das Bistum Aachen im Dezember gefordert: „Wenn Unternehmen Niedriglohnpolitik auf dem Rücken der Beschäftigten und auf Kosten der Steuerzahler betreiben können, muss der Staat gegensteuern.“