Gastbeitrag Wo bleibt das Erleben von Gemeinschaft?

Krefeld · Bewältigung der Corona-Pandemie fordert vor allem junge Menschen heraus.

Leere Klassenzimmer an Grundschulen gab es in den letzten Wochen und Monaten zu viele.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Kitas bleiben – noch – bis zu einer auf das Minimum reduzierten Notbetreuung geschlossen, der schulische Unterricht soll aus der Distanz erfolgen und Angebote der außerschulischen Jugendbildung und -freizeit wie Jugendarbeit, Sport, Kultur, etc. kommen völlig zum Erliegen. Wie sollen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aber ihr Recht auf Entwicklung zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, das in der UN-Kinderrechtskonvention, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und bald sogar im deutschen Grundgesetz verankert ist, beanspruchen können, wenn ihnen außerhalb ihrer Kernfamilie derzeit nahezu alle physischen Kontakte untersagt sind?

Zudem stellt sich die nicht minder drängende Frage, wie ihr Recht auf Bildung eingelöst wird. Dabei scheitert das Lernen auf Distanz oftmals schon an der technischen Infrastruktur. Ferner scheint bis heute ungeklärt, welche Inhalte digitale Bildung überhaupt transportieren soll: Denn es kann ja nicht damit getan sein, wenn analoge Lehrplaninhalte auf digitalen Wegen zu den Schülerinnen und Schülern gelangen. Wo bleibt eine grundlegende pädagogische Idee und Konzeption, welche Chancen digitaler Wissenserwerb bieten kann? Ebenso wenig muss Lernen auf Distanz zwingend digital erfolgen: Es ist ja nicht verboten, zu Hause auch mal ein gutes Buch in die Hand zu nehmen.

Damit digitale Bildung gelingen kann, müssen die Schulen neben der technischen Ausstattung insbesondere über entsprechend fortgebildetes Personal verfügen. Spätestens hier rächt es sich, dass im Grunde genommen Schule größtenteils heute immer noch so funktioniert wie vor über 100 Jahren: Eine Lehrkraft vor einer Klasse mit 25 oder mehr Schülerinnen und Schülern. Hätte man neben der technischen Infrastruktur bereits vor Jahrzehnten in zusätzliche Medienpädagoginnen und -pädagogen an Schulen investiert, wäre der jetzt viel zu abrupt eingesetzte Wechsel auf digitales Distanzlernen wesentlich schonender für alle Beteiligten ausgefallen und würde die Krise jetzt auch nicht zu einem stark geschliffenen Brennglas sozialer Ungleichheiten unseres öffentlichen Bildungswesens machen.

Mit der Beschränkung von Kontakten geht eine Einschränkung vieler vom Grundgesetz garantierter Freiheitsrechte einher. So werden Kunst und Kultur völlig untersagt, Einzelhändler dürfen ihre Geschäfte nicht öffnen, wir alle werden durch Ausgangssperren eingeschränkt, usw. Darf der Staat uns alle so in unseren Freiheiten limitieren, um das Leben und die Gesundheit anderer zu schützen?

Er darf, denn Grundrechte als vom Staat garantierte Freiheitsrechte, die alle staatlichen Gewalten wie Gesetzgebung, Regierung/Verwaltung und Gerichte zu achten haben, gelten nicht vorbehaltslos. Sie dürfen eingeschränkt werden, wenn dies ein legitimer Schutzzweck gebietet: Und vorliegend geht es weniger darum, den einen etwas zu verbieten, um andere zu schützen, sondern zuallererst um die Funktionsfähigkeit des staatlichen Gesundheitswesens. Dass selbst unser hochentwickeltes Gesundheitssystem in Deutschland an seine Grenzen stoßen kann, liegt bei derzeit täglich bis zu 1000 Todesfällen aufgrund von Covid-19 und bundesweit etwa 25 000 Infizierten in den Krankenhäusern (davon 5000 in intensivmedizinischer Behandlung) auf der Hand.

Allerdings müssen Freiheitsrechte beschränkende Maßnahmen verhältnismäßig sein: Das heißt, sie müssen geeignet zur Erreichung des Schutzzweckes sein, dabei jedoch stets das relativ mildeste Mittel darstellen und schließlich unter Abwägung aller weiteren Gesichtspunkte die Einschränkung des betroffenen Grundrechts rechtfertigen. Pandemien – solange weder eine Durchimpfung stattgefunden hat, noch es adäquate lebensrettende Behandlungsmethoden gibt – lassen sich nun einmal vor allem durch die Beschränkung von sozialen Kontakten eindämmen. Die gesamte Bevölkerung in der eigenen Wohnung einzusperren, ist sicherlich nicht das mildeste Mittel. Daher versuchen Bund und Länder, die sich hinter den Überschriften „Shutdown“, „Lockdown“, „Lockdown light“, etc. verbergenden Ge- und Verbote nach Möglichkeit differenziert auszugestalten.

Doch je differenzierter man sich der Sache nähert, desto schwerer nachvollziehbar erscheinen manche Ungleichbehandlungen: Warum müssen Kunst, Kultur und Sport trotz sehr detaillierter Hygienekonzepte mit der Nachverfolgbarkeit der Teilnehmenden immer komplett schließen, während sich viele Menschen unkontrolliert und auf engem Raum jeden Tag in Bussen und Bahnen des ÖPNV drängen? Warum wird unser Privatleben auf ein absolutes Minimum an sozialen Kontakten reduziert, während wir – Maske hin, Maske her – im Großraumbüro täglich vielen Kolleginnen und Kollegen begegnen dürfen? Diese Fragen zeigen, dass es oftmals höchst anspruchsvoll ist, alle berechtigten Interessen sachgerecht abzuwägen ohne dabei das eigentliche Ziel der Maßnahmen, nämlich die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens, aus dem Blick zu verlieren.

Weil dies alles zumindest stark erklärungsbedürftig ist, komme ich nun zu der für mein Dafürhalten größten Schwäche der bisherigen Krisenbewältigung: Die maßgeblichen Entscheidungen wurden in nichtöffentlichen Runden der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung getroffen. Der Bundestag und die Landesparlamente debattierten über die konkreten einschränkenden Maßnahmen kaum und wenn, dann wurden sie im Nachgang von der jeweiligen Regierung über bereits Beschlossenes informiert. Nicht nur, dass das formelle Gesetz die größtmögliche Legitimation von Grundrechtseingriffen bietet, so ist doch gerade der parlamentarische Diskurs, das rhetorische Abwägen von politischen Maßnahmen in öffentlichen Debatten, eine essentielle Säule unserer Demokratie. Wenn alle staatliche Macht vom Volke ausgeht, dann muss staatliches Handeln auch dem Volke transparent erklärt werden.

Freilich ist es im Nachhinein müßig zu spekulieren, ob so manche Querdenkerdemo nach intensiver Parlamentsdebatte mit entsprechenden Redebeiträgen der Opposition nicht angemeldet worden wäre. Unstreitig dürfte jedoch sein, dass Transparenz, Öffentlichkeit und Beteiligung der Bürgerschaft die Akzeptanz politischer Entscheidungen erhöhen.

Wenn man die Corona-Krise mit den Herausforderungen des Jahres 2015 vergleicht, als sehr viele Menschen auf der Flucht nach Deutschland kamen, dann fällt auf, dass diejenigen, die 2015 rigoros abschotten wollten, Grenzschließungen forderten und sich an ein Asylgrundrecht so gar nicht mehr erinnern wollten, heute oftmals diejenigen sind, die von einer Corona-Diktatur sprechen, weil ihnen sämtliche Maßnahmen zum Schutz des deutschen Gesundheitssystems willkürlich vorkommen. War für sie 2015 jeder Geflüchtete der eine zu viel, der unser Sozialsystem an den Rand des Kollaps bringt, sind heute mehr als 1000 Tote am Tag aufgrund von Covid-19 kein Grund zur Panik und keine Bedrohung für unser Gesundheitswesen, weil es sich ja bei Covid-19 schlimmstenfalls um eine leichte Grippe handelt. Man muss schon sehr quer denken, um diesen Vergleich der Krisensituationen 2015 und 2020/21 nicht als völlig paradox zu entlarven. Jedoch zeigt dieses Beispiel auf, wie wichtig transparentes Erklären und Begründen der Krisenbewältigung durch die politisch Verantwortlichen ist.

Derzeit flammt eine weitere Debatte auf, die sehr vielschichtig geführt werden will: Es geht um die Frage, ob bereits geimpfte Personen von den einschränkenden Maßnahmen nicht mehr so stark betroffen sein sollten wie noch nicht Geimpfte. Freilich kann man das erst klar beantworten, wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass Geimpfte das Virus nicht mehr übertragen können, was jüngst auch der Deutsche Ethikrat betont hat. Sollte dies der Fall sein, wäre es meiner Meinung nach kaum zu rechtfertigen, warum diejenigen, die das Virus nicht mehr weitergeben können, sich sozial ebenso stark einschränken müssen wie diejenigen, die noch nicht geimpft wurden.

Jetzt kann man natürlich fordern, dass Lockerungen für Geimpfte erst möglich werden sollen, wenn alle Teile der Bevölkerung die Möglichkeit haben, sich auf freiwilliger Basis impfen zu lassen. Doch dies ist kein Argument der Pandemieeindämmung bzw. der Stabilisierung des Gesundheitssystems mehr, sondern eher der Versuch, eine Neiddebatte im Keim zu ersticken. Da eine provokant formulierte „Gleichbehandlung im Elend“ nicht dem Geist des Grundgesetzes entspricht, sind meines Erachtens Lockerungen für Geimpfte geboten.

Zusammenfassend bleibt für Pädagoginnen und Pädagogen in Jugendarbeit, Jugendhilfe und Schule viel zu tun: Erklärt das alles den jungen Menschen und haltet Kontakt zu ihnen: Jeder digitale Kontakt ist besser als gar kein analoger!