„Das Gespräch wird zum Selbstzweck“
Dr. Burkhard Voß kritisiert in seinem Buch, dass die Schwelle zum psychisch krank sein immer weiter abgesenkt wurde.
Krefeld. Dr. Burkhard Voß arbeitet als Arzt für Neurologie und Psychiatrie. Anfang April erschien sein sechstes Buch „Deutschland auf dem Weg in die Anstalt — Wie wir uns kaputtpsychologisieren“, in dem er sich unter anderem mit der inflationären Ausweitung des Begriffs der psychischen Krankheit auseinandersetzt.
Herr Voß, ihr Buch beginnt mit einem Vorwort von Wolfgang Clement, dem früheren NRW-Ministerpräsidenten. Wie kam es dazu?
Burkhard Voss: Ich hatte Herrn Clement bei der Verlagssuche für mein Buch „Der Ruhestand — das süße Gift“ um Hilfe gebeten. So kam der Kontakt zustande. Bei meinem aktuellen Buchprojekt habe ich ihn dann als prominente Persönlichkeit gebeten, ein Vorwort zu schreiben. Herr Clement hat sich bereit erklärt, mir diesen Gefallen zu tun.
Einige Passagen in ihrem Buch klingend doch recht zynisch. Mögen Sie ihren Beruf denn?
Voss: Ich mag meinen Beruf nach wie vor. Einige Aussagen können sicher als zynisch aufgefasst werden. Ich selber würde das Buch eher als ein polemisch formuliertes Essay bezeichnen.
Sie bezeichnen den hypersensibelen Teil der Gesellschaft, der sich ständig durch alles belästigt fühlt, als nervtötend und ähnlich anstrengend wie Rüpel. Sind sie von solchen Menschen genervt, obwohl sie damit ihr Geld verdienen?
Voss: Psychotherapie ist grundsätzlich an Lösungen orientiert. Aber es gibt bestimmte Zeitgenossen, da wird das Gespräch zum Selbstzweck. Dann geht es nicht mehr darum, was man tut und wie man es tut, sondern ausschließlich darum, wie man sich dabei fühlt. Die Gefahr dabei ist, dass das Leben in den Hintergrund rückt. Dafür gibt es den Ausdruck Übertherapie. Diese Verhaltensweise nervt mich sicher, und ich bringe es professionell zur Sprache, wenn Patienten nur um sich selbst zirkeln.
Sie plädieren für lebenslange Arbeit. Möchten Sie das selber?
Voss: Auf jeden Fall, es gäbe für mich nichts Schlimmeres, als Rentner zu sein und nur noch irgendwelchen Bastelein nachzugehen. Ich würde es anders strukturieren, aber Arbeiten als solches möchte ich auch jenseits von 65 nicht vermissen. Außerdem würde ich mich ja unglaubwürdig machen, wenn ich von anderen fordere, was ich selber dann nicht praktizieren möchte.
Ist die Kernaussage ihres Buches, dass wir zu viel über Unwichtiges nachdenken?
Voss: Unter anderem, ja. Die drei großen Bereiche meines Buches sind die zu weite Ausdehnung des Begriffes psychisch krank, der geistige Überbau in Form der postmodernen Philosophie und die Gender-Mainstreaming Ideologie.
Was genau ist denn die Gender-Mainstreaming-Ideologie?
Voss: Die Idee, dass das Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, dass man frei wählen kann. Gemäß dieser Ideologie gibt es angeblich kein biologisches Geschlecht, alles ist von der Gesellschaft geprägt. Das hat etwas mit der postmodernen Philosophie zu tun, in der die Subjektivität im Vordergrund steht und und eine Objektivität letztlich nicht existiert. Die Gender-Ideologie schafft Probleme, die es ohne sie nicht gäbe.
Wie kommt es, dass in den letzten Jahren mehr psychische Erkrankungen diagnostiziert worden?
Voss: Die Schwelle zum psychisch krank sein wurde in den letzten Jahren immer mehr abgesenkt, das merke ich auch hier bei mir in der Praxis. Heute kann jede Lebenskrise zu einer psychischen Erkrankung stilisiert werden. Deswegen haben psychische Diagnosen so enorm zugenommen. Ob in jedem Fall alltagsrelevante Erkrankungen dahinterstecken, muss bezweifelt werden. Immer mehr Lebensbereiche, die früher als dem Leben zugehörig betrachtet wurden, werden psychopathologisiert. Und natürlich ist auch das Wissen über die verschiedenen Krankheiten größer geworden.
Arbeiten Sie schon an ihrem nächsten Buch?
Voss: Den Titel für meine nächste Buchveröffentlichung habe ich schon „Bürokratie — eine Hassliebe und warum die Liebe überwiegt.“ Wir leben in einer Gesellschaft der zunehmenden Absicherung. Das ist nur mit einer zunehmenden Verwaltung möglich. Irdische Absicherungen werden immer wichtiger. Ich greife bei meinen Büchern immer aktuelle gesellschaftliche Phänomene auf. Mich nur mit einer Sache zu beschäftigen, wäre mir zu wenig.