Theater Das Tor zu Mord und Totschlag
Mit der „Orestie“ inszeniert Matthias Gehrt ein Stück für das Theater Krefeld, das zugleich packt und belehrt.
Krefeld. Kassandra weiß, dass sie sterben wird. Sie hat es selbst vorhergesagt. Dennoch geht sie durch das Tor in den Tod. Während es sich schließt, sagt sie: „Mehr als alles andere schmerzt mich das Vergessensein.“ Und sie hat recht. Sie wird vergessen.
Mit der dreiteiligen „Orestie“ hat Regisseur Matthias Gehrt ein weiteres Stück griechische Mythologie ins Krefelder Theater gebracht. Die Geschichte um den Mord von Orestes an seiner Mutter ist packend inszeniert, allerdings gleicht der Schluss einer Geschichtsstunde.
Die Bühne und der Chor wurden vom antiken Theater inspiriert. Bühnenbildnerin Gabriele Trinczek schafft mit dem unheilvollen Tor eine Ebene, die zwar in der Antike erdacht, aber modern umgesetzt wurde. Dahinter werden alle Morde begangen. Das Tor öffnet sich wie eine elektrische Schiebetür. Der Zuschauer weiß ganz genau, was passiert, wenn Klytaimestra und Orestes dahinter verschwinden. Zu sehen bekommt er nur das blutüberströmte Ergebnis.
Zur konsequenten Umsetzung gehört ein Podest, das die Bühne in den Zuschauerraum verlängert und einer Rampe ähnelt. Das schafft einen intimeren Zugang zu den Schauspielern.
Zu Beginn des Stücks schlurfen und hinken ältere Herren mit weißem Haar wie Zombies aus allen Richtungen auf das Publikum zu. Als sie den Zuschauern um das Podest herum die Hand reichen könnten, ziehen sie sich zurück. Dann aber kommen sie, um eine Geschichte zu erzählen. Die trieft vor Blut.
Gemeinsam trägt dieser Chor vor, dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie geschlachtet hat, um den Göttern in der Schlacht gegen Troja ein Opfer für besseren Wind auf See zu bringen. Als der Krieg nach zehn Jahren zu Ende ist, beginnt damit ein neuer Krieg — der im Haus des Agamemnon. In der überschwänglichen Begrüßung seiner Frau Klytaimestra (Eva Spott) ist die Heuchelei offensichtlich.
Noch größer ist ihre Euphorie, nachdem sie ihren Mann erschlagen hat. Das ist die Rache für den Mord an der gemeinsamen Tochter Iphigenie. Das Publikum hört nur die Schreie Joachim Henschkes, der den Agamemnon bis zuletzt als starken Krieger spielt, der viel Leid gesehen und verursacht hat.
Für diese Tat umgebracht wird Klytaimestra vom eigenen Sohn Orestes. Cornelius Gebert ist in seiner Rolle als Muttermörder weniger entschlossen als Klytaimestra bei ihrer Tat. Nachdem Orestes den Geliebten seiner Mutter (Bruno Winzen) ermordet hat, schafft es seine Mutter, ihn zum Zweifeln zu bringen. Er sucht Rat bei seinem Freund Pylades (Ronny Tomiska), der ihn erinnert, was er den Göttern zugesagt hat. An den Haaren zieht Orestes seine Mutter daraufhin zum Tor des Todes. „Du hast getan, was Du nicht tun durftest. Jetzt erleide Du, was man nicht tun darf.“
Als sich das Tor wieder öffnet, werden die beiden Leichen und ein blutüberströmter Orestes präsentiert. Im dritten und letzten Teil wird Orestes von den Rachegeistern verfolgt, bei der Göttin Athene sucht er Zuflucht. Sie überträgt die Entscheidung über seine Schuld auf das Volk.
Die Erfindung der Demokratie ist in der ursprünglichen Fassung ein bedeutendes Element. In der Inszenierung im Jahr 2015 wirkt es belehrend. Esther Keil spielt die Athene treffend, würdevoll und erhaben. Dennoch ist die häufige Wiederholung der Bedeutung der Demokratie mit viel Pathos aufgeladen. Es hätte auch jemand ein Schild hochhalten können, auf dem steht: Achtung, es passiert gerade etwas Bahnbrechendes für die Geschichte der Gesellschaft.
Die Kostüme von Sibylle Gädeke sind wunderbar zeitlos. Der Chor der Ältesten trägt keine Gewänder, sondern Jacketts und Schals. Die Kleidung der Dienerinnen ist aus Jeansstoff. Im dritten Teil werden die Rachegeister gruselig mit verbundenen Gesichtern inszeniert, das wird der Sache gerecht. Warum Apollon allerdings auf glitzernden Plateauschuhen über die Bühne laufen muss, wird nicht ganz klar. Zwar glitzert auch Athenes Kleid, aber diese offensichtliche Verbindung der Götter hätte es nicht gebraucht.
Was lange nachhallt, sind die erschütternden Schreie Kassandras (Helen Wendt), die mit Agamemnon sterben musste — nur, weil ihre Anwesenheit Klytaimestra beleidigt. Für ihren Tod fordert niemand Gerechtigkeit. Sie bleibt auch im Richterspruch vergessen.