Schauspiel Ein alternativer „Wilhelm Tell“ im Kreis
Krefeld · Statt der regulären Premiere von Schillers Drama gab es im Theater Krefeld eine beeindruckende szenische Lesung. Unter Corona-Bedingungen, ohne Publikum als Stream.
In einem dunklen Bühnenraum stehen runde Tische gleichfalls in einer runden Form angeordnet. Noch sind keine Menschen sichtbar, die Tische indes werden von Lichtkegeln angeleuchtet, sodass der Anblick die Verheißung in sich birgt, dass die Szenerie alsbald von Menschen bevölkert werde. Und ja, dies wird auch gleich der Fall sein; im Theater Krefeld mit Schauspielern.
Allerdings unter ganz außergewöhnlichen Umständen, unter besonderen Vorzeichen bedingt durch die aktuelle Corona-Situation. Einzeln treten die Schauspieler in die Szene, desinfizieren, fast wie in einem Ritual, ihre Hände und setzen sich feierlich auf den für sie bestimmten Platz. Schutzmaßnahmen, die hier vom Theater ästhetisiert werden. Viele kleine Hinweise ließen sich zumindest unterbewusst wahrnehmen. So auch die verdächtig an einen abstrahierten Virus erinnernde Anordnung der Tische – oder überinterpretieren wir hier? So oder so, durch das explizite Exerzieren von hygienischen Regeln rücken diese bewusst in den Vordergrund. So werden sie ganz deutlich als etwas „Außergewöhnliches“ kenntlich gemacht. Signalisieren einerseits dem Betrachter, dass man die Regeln sehr ernst nimmt, andererseits aber auch, dass sie eben keine „Normalität“ sein können.
Der Video-Mitschnitt ist noch auf Youtube abrufbar
Da die Premiere am 16. Mai von „Wilhelm Tell“ am Theater Krefeld verschoben werden musste, hatte man sich eine Corona-taugliche Alternative überlegt. Eine szenische Lesung, die live im Video-Stream übertragen wurde. Publikum vor Ort im Theater Krefeld, wo die stimmungs- und kunstvolle Aktion stattfand, durfte es allerdings nicht geben. Aber wer sich den Stream, der immer noch auf Youtube als Mittschnitt verfügbar ist (https://youtu.be/2KTkY7rxrlQ), ansah, den riss diese sehr jetzt-bezogene, sehr pure und zeitgleich reduziert aphoristische Version von Schillers Drama sogleich mit. Dies nicht nur wegen der energiegeladenen vor Herzblut durchströmten und zeitgleich fein differenzierten Schauspielkunst aller Personen, sondern auch der so fokussierten Szenerie, die mit Kameras geschickt von Krähennest-TV eingefangen wurde.
Matthias Gehrt (Künstlerische Leitung) und Thomas Blockhaus (Dramaturgie) haben Schillers Wilhelm Tell bearbeitet, gekürzt und mit Zitaten oder Gedanken aus der Sphäre der Klima-Bewegung aufgeladen. Ein Auflehnen gegen die Ausbeutung, die Ausbeutung der Natur durch die Machthaber rückt in den omnipräsenten bisweilen fast etwas zu plump hereinbrechenden Subtext des verdichteten Dramas; dessen Essenz sonst der Freiheitskampf der Schweizer ist. Personifiziert durch Wilhelm Tell, der mehrfach seine Überlegenheit gegenüber der Willkürherrschaft des Tyrannen Gessler erweist: Apfelschuss vom Kopfe seines Kindes, der finale Herzschuss in die Brust des Reichsvogts. Lebendig und allein durch ihre mimische und sprachliche Präsenz evozieren die Schauspieler Bilder im Kopf des Betrachters – als sehr hilfreich, um die Sogkraft zu unterstreichen, erweist sich die ambiente, manchmal etwas treibende Musik von York Ostermayer, die vorproduziert zu den jeweiligen Szenen eingespielt wurde.
Doch Schillers Sprache, die in Teilen seine Magie entfalten darf, allein in dieser so minimalistischen Szene durch die Interpretation der Schauspieler kann schon an sich sehr bildhafte Momente im Geiste des Zuhörers und -sehers heraufbeschwören. Auch dank der plastisch schildernden Stimme von Bruno Winzen als Erzähler.
Raafat Daboul ist Teil des Projekts „Das Junge Theater“
Paul Steinbach ist ein etwas mysteriös weicher, dadurch leicht brüchiger Tell. Um ihn herum Michael Grosse als psychopathisch angelegter Reichsvogt Hermann Gessler, Esther Keil als expressive Gertrud Stauffacher, Söldnerin Mechthild und Bäuerin Armgard, Nele Jung als Hedwig Tell, Jannike Schubert als Waltraud Tell (Kind) und Elsbeth, eines Fischers Frau, Adrian Linke als Werner Stauffacher, Michael Ophelders als Walter Fürst, Henning Kallweit als Arnold von Melchtal und Ronny Tomiska als Fährmann Ruodi und Pfarrer Rösselmann. Alle hervorragend. Raafat Daboul verkörpert Konrad Baumgarten und Söldner Leuthold. Der 2016 nach Deutschland geflüchtete Syrer ist Mitglied des spartenübergreifenden Projektes „Das Junge Theater Krefeld Mönchengladbach“ und sprach Teile seiner Rolle in – wahrscheinlich – seiner Muttersprache. Ein Akzent im ästhetischen Gesamtgefüge, der noch weitere Deutungsebenen aufspannen könnte. Immerhin geht es in Wilhelm Tell nicht zuletzt auch um Identität, Flucht und Mehrdeutigkeit von semantischen Zusammenhängen.
In der puren szenisch gelesenen Form werden derartige Aspekte, die Schauspieldirektor Matthias Gehrt aus Schiller auch durch geschickte Überschreibungen herausschält, noch schlüssiger. Ohne „wirkliche“ Szene lässt sich allein durch das Kopfkino so manches miteinander vermengen. Auch die tief im Text liegende Aktualität, bezieht man sie nicht zum ganz zeitgenössische „Jetzt“ der Corona-Krise, sondern in das gerade erst vergangene, die eigentliche uns gerade als ganz nahe Vergangenheit in das Gedächtnis festgesetzte „Gestern“. Also das, was uns etwa 2019 umtrieb.
Für das, was es war, muss dieses Projekt als gelungen gelten, das stehe außer Frage. Dennoch muss eines gefragt werden, und das emphatisch. Können derartige Live-Streams, sind sie auch so gut und mitreißend gemacht, ansatzweise ein Ersatz für „echtes“ Theater in einem Theatersaal mit Publikum sein? Nein – muss die Antwort lauten. Denn auch wenn wir bei einem Live-Stream die Aura des Augenblicks zumindest erahnen können, wissend, dass das, was wir sehen, fast zeitgleich im Theater geschieht, so fehlt das Essentiellste, was Schauspiel ausmacht: Der unmittelbare Kontakt, sei er auch schwer zu erklären, zwischen Schauspieler und Publikum. Die Energie, die man nur spüren kann. Auf der Bühne wird sehr sensibel auf das reagiert, was sich im Publikum tut, und das Publikum reagiert gleichfalls extrem stark auf jede kleinste Regung auf der Bühne.
Ein dialektischer Prozess, den es im Kino, im Film oder im Stream gar nicht geben kann. Ein anderes Genre. Auch deshalb muss es „echte“ Lösungen für das Theater geben.
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