Lesung Es muht die Kuh zum „Sinngedicht“

Die „Wahnsinn Litaneien“ des Gerhard Rühm – eine Lesung im Theater am Marienplatz.

 Pit Therre, Karsten Lehl und Björn Kiehne (v.l.n.r.) lesen die Texte nicht – sie bieten sie dar.

Pit Therre, Karsten Lehl und Björn Kiehne (v.l.n.r.) lesen die Texte nicht – sie bieten sie dar.

Foto: Mark Mocnik

Die Litanei kann ein Gemeinschaftsgebet sein oder auch eine lange Aufzählung, die schnell eintönig wirkt. „Wahnsinn Litaneien“ heißt ein 1973 im Carl Hanser Verlag erschienenes Buch des Wieners Gerhard Rühm. Der Titel kommt ohne Genetiv-S beim Wahnsinn und auch ohne Bindestrich daher, also schon als umstandslose Aufzählung. Mit einer Lesung von Texten daraus eröffnete das Theater am Marienplatz (Tam) jetzt seine Spielzeit. Die ist aus Anlass seines 90. Geburtstags im Februar zur Gänze Rühm gewidmet, einem Hauptvertreter der konkreten Poesie.

Gereon Bründt, Dieter Kaletta, Björn Kiehne, Karsten Lehl, Nina Sträter und Tam-Hausherr Pit Therre sind die Akteure, sieben Texte werden gelesen beziehungsweise mit sehr reduzierten, über das bloße Lesen hinausgehenden Mitteln dargeboten. Erst zum Schluss wird man dabei in die Ödnis einer Litanei geschickt, die keinerlei Sinn mehr zu offenbaren hat. Der Text heißt passenderweise „Sinngedicht“.

Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber jener Literatur, die vorgibt, realistisch die Wirklichkeit schildern zu können, ist eine der Triebfedern der konkreten Poesie. Rühm und weitere wollten lieber die Sprache selbst untersuchen, Rühm legte es bei den „Wahnsinn Litaneien“ – so steht es in deren Vorwort – „auf eine Annäherung von Erleben und Ausdruck an“.

Gedrucktes aus dem Bereich der konkreten Poesie findet man heutzutage meist nur noch in Antiquariaten. Gleichwohl ist sie eine wichtige Strömung der literarischen Moderne, und wo, wenn nicht im Tam mit seiner Vorliebe für das Experimentelle, könnte man derlei noch vorgeführt bekommen?

Der Abend startet programmatisch mit dem „Glaubensbekenntnis“, von Pit Therre mit dem Sprechgesang eines Vorbeters vorgetragen. Gegenstand des Glaubens ist hier aber nicht das Göttliche, aufgezählt werden vielmehr Bestandteile eines Essens: „Ich glaube an ein Kalb“, und so weiter. Rühm bekennt sich hier also zum Weltlichen.

Die mehr oder weniger willkürliche Aneinanderreihung von Worten ist das Hauptmittel des Abends. So erschöpft sich der „Lebenslauf“ (Bründt) in der Aufzählung der jeweils erreichten Körpergrößen in Zentimetern – „61 Zentimeter, 62 Zentimeter“, und so weiter –, beugt der Erschöpfung aber doch mit kleinen Überraschungen vor.

Die „Astronautische Meditationslitanei“ (Sträter) verdeutlicht trotz nur weniger Worte und ausufernder Wiederholung eines bestimmten Wortes die Dimension der Zeit. Wie genau, das sei hier mal nicht verraten.

In „Wahnsinn, Flüstergedicht“ (Kaletta) werden einzelne Begriffe stets dreimal wiederholt. Ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den Begriffen besteht nicht, die Stärke des Textes ist, dass man sich beim Zuhören dabei ertappen kann, selbst Sinnzusammenhänge herzustellen. Ist das schon Wahnsinn?

Zum Schluss also das „Sinngedicht“. Karsten Lehl spricht, Björn Kiehne dreht dazu unablässig eine Kinderleier, Pit Therre erzeugt mit einem weiteren Spielzeug in regelmäßigen Abständen ein Muh-Geräusch. Der Text reiht viel zu oft das Wort „Sinn“ hintereinander, stets ergänzt durch einen weiteren Begriff. Die ergänzenden Begriffe beginnen jeweils mit „in...“ und sind alphabetisch sortiert. Zu Beginn hört man etwa „inadäquat“, „inakkurat“, „inaktiv“ und so weiter. Das macht natürlich keinen Sinn, und genau das soll es wahrscheinlich auch nicht. Abgesehen von diesem Ende, das sich in die Länge zieht, kann man im Tam einen mindestens interessanten Abend erleben.

„Wahnsinn Litaneien“ von Gerhard Rühm sind im Theater am Marienplatz zu sehen. Weitere Aufführungen: 13., 20. und 27. September, jeweils um 22 Uhr.