Es liegen Konzerte unter Corona-Bedingungen mit den Niederrheinischen Sinfonikern hinter Ihnen. Herr Kütson, wenn Sie resümieren, wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?
Talk am Theaterplatz Diesen Konzertsaal wünscht sich Krefelds Generalmusikdirektor
Interview | Krefeld · Im Interview erklärt Mihkel Kütson - Generalmusikdirektor des Theaters Krefeld und Mönchengladbach - welche Herausforderungen es gerade gibt. Und er macht klar, was eine Seidenweberhaus-Alternative bieten muss.
In dem zweiten „Talk am Theaterplatz“ sprachen wir mit dem Generalmusikdirektor des Theaters Krefeld und Mönchengladbach, Mihkel Kütson – über sein Orchester unter Corona-Bedingungen, historische Musizierpraxis und einen neuen Konzertsaal für Krefeld. Der in das Herz der Stadt gehöre, so wie der Platz selbst, an dem wir das sommerliche Gespräch führten.
Mihkel Kütson: Die letzten Wochen waren sehr voll, sehr intensiv und auch künstlerisch sehr lebendig. Weil wir doch entschieden haben, die Spielzeit nicht frühzeitig für beendet zu erklären, sondern abwarten wollten, wie sich die Lage entwickelt. Daraus ergab sich, dass wir mit dem Orchester schließlich Ende Mai schon spielen durften – im Autokino (in Mönchengladbach, Anmerkung der Redaktion) mit gesicherten Abständen. Wir haben schon ganz früh einen Testballon starten können, übrigens auch ein Familienkonzert.
Das muss doch sehr skurril gewesen sein, in einem Autokino zu spielen?
Kütson: Es war schon sehr skurril. Man geht auf die Bühne, alles ist fast wie sonst auch, wenn es auch eine Kammerorchesterbesetzung war. Aber dann blickt man plötzlich in die Scheinwerfer der Autos. Das war schon etwas sehr Außergewöhnliches.
Aber im Juni durften Sie wieder „normalere“ Konzerte spielen.
Kütson: Ja, wir haben mit den Niederrheinischen Sinfonikern vier Programme in Mönchengladbach und zwei Programme in Krefeld gespielt. In Mönchengladbach neben dem Theater im Park. Hier in Krefeld fehlt uns ein entsprechender Spielort, weil wir hier auf dem Theaterplatz keine Bühne aufbauen dürfen – wegen der Statik der Tiefgarage –, so spielten wir hier im Theater. Unsere Erfahrung hat gezeigt, obwohl es am Anfang etwas zögerlich losging, dass die wenigen Karten, die wir verkaufen durften, sehr schnell weg waren.
Beschreiben Sie uns das Gefühl, wie es ist, unter Corona-Bedingungen in einem großen Theatersaal vor weit verstreutem, spärlichem Publikum zu dirigieren.
Kütson: Als Dirigent habe ich das Privileg, beim Musizieren nicht direkt in das Publikum zu blicken – da vergisst man es sogleich wieder. Aber angenehm ist es nicht.
War die Energie, die zwischen Musikern und Publikum entstehen kann, jetzt anders?
Kütson: Das hat man später bei dem Applaus gemerkt. Das Publikum hat wohl auch versucht, den fehlenden Teil des Publikums zu kompensieren. Man spürte die Dankbarkeit, dass Kultur wieder unmittelbar möglich ist. Trotz aller digitaler Angebote – die auch Kultur sein können –, ist das Live-Erlebnis etwas Besonderes.
Haben Sie eine Veränderung bei Ihrem Orchester feststellen können?
Kütson: Im ersten Moment spürte man die pure Freude, dass man aus den eigenen vier Wänden wieder herauskommen konnte, Kollegen treffen und gemeinsam Musik machen. Als Persönlichkeit konnten die Musiker in den kleineren Besetzungen noch mehr wahrnehmbar sein, als wenn sie in größere Gruppen eingebettet wären. Etwa bei den Streichern, bei denen wir jetzt viel mehr als sonst mit kleinen kammermusikalischen Besetzungen arbeiten. Dadurch entsteht eine entsprechende Fokussierung auf jeden einzelnen Spieler. Es war auch von Anfang an eine große Herausforderung, nach zwei Monaten Dürre plötzlich wieder hundertprozentig da zu sein. Kaum die Möglichkeit zu haben, sich wieder richtig einzuspielen. Auch in den digitalen Angeboten als Stream waren die Musiker in Kammerbesetzungen sehr gefordert.
Wie war die Stimmung bei den Proben?
Kütson: Die Stimmung war sehr gut. Wir mussten uns aber mit den Abstandsregeln zurechtfinden. Die Hörgewohnheiten sind anders. Wenn man weiter voneinander entfernt sitzt, kann man den Kollegen in gewissen dynamischen Abstufungen gar nicht wahrnehmen. Wir probten im Konzertsaal in Mönchengladbach. Die Bühnengrößen, die uns erwartet haben, mussten wir im Blick haben. Die Musiker waren zu den sechs Konzerten eingeteilt, sodass jeder Musiker auftreten konnte.
Welche Herausforderungen gab es noch?
Kütson: In so kleinen Besetzungen spielen wir seltenst. Wir sind sonst ein großes Orchester mit über 80 Musikern. Wenn diese Besetzung zusammenspielt, ist das ein ganz anderer Klang als ein Kammerorchester. Durch die kleine Besetzung ist alles viel durchsichtiger und somit auch etwas verräterischer. Durch die Abstände ist es schwierig, sich aufeinander einzulassen. Man kann sich im Klang auch schlechter kontrollieren. Wenn man fünf erste Geigen hat und die letzten zwei sitzen ganz weit weg, kann man nur schwer beurteilen, wie es dann im Saal wirkt und zusammenklingt.
Die Corona-Situation steht im Ruf, vorhandene, aber weniger sichtbare Zustände hervorzuholen, spürbarer, klarer erkennbar zu machen. Gab es auch solche Erkenntnisse bei Ihnen und Ihrem Orchester?
Kütson: Für mich war es positiv zu sehen, wie viel Energie, Ideen und Wille zum Musizieren im Orchester vorhanden sind. Funken können, wenn man Jahrzehnte in einem Orchester gearbeitet hat, verlorengehen. Man sitzt fast jeden Tag neben der gleichen Person – das ist fast wie eine Ehe und birgt Risiken. Die Aufgabe des Orchesterleiters ist nicht nur dafür zu sorgen, dass jeder seine Töne zur richtigen Zeit spielt, sondern auch, dass das Miteinander frisch gehalten wird. Die große Freude, dass wir wieder zusammen spielen können, zeigte mir, dass wir so viele richtige Musiker im Orchester haben. Aber auch neben der Bühne – die vielen Menschen, die dafür sorgen, dass wir spielen können.
Vor Corona hatten Sie schon angekündigt, sich mehr um historische Aufführungspraxis kümmern zu wollen. Durch Corona müssen Sie nun ohnehin mit kleineren Besetzungen spielen. Werden die Sinfoniker anders klingen, beispielsweise auch bei dem Chopin-Klavierkonzert im Oktober?
Kütson: Was gerade Chopin angeht, werden wir wegen Corona glücklicherweise nicht zu kammermusikalisch sein müssen. Es wird im Klang nicht viel anders sein, als sonst bei Chopin. Chopin behandelte das Orchester sehr pianistisch – daher passt es ganz gut, dass wir es relativ original spielen können, wie Chopin es gedacht hat. Schwierig zu sagen, was dabei das Historische in der Aufführungspraxis sein würde.
Wie stehen Sie eigentlich zu der sogenannten „historisch informierten Aufführungspraxis“?
Kütson: In letzten 50 Jahren hat ein großes Umdenken stattgefunden – kein Orchester würde heutzutage Musik aus verschiedenen Epochen gleich spielen wollen. Auch wir sind bestrebt, Beethoven anders zu spielen als etwa Brahms oder Tschaikowski. Es geht auch um die Spielart, das Vibrato, Artikulation oder auch die Phrasierung.
Da legen Sie viel Wert darauf?
Kütson: Ja – weil Musik jeweils so geschrieben ist, dass sie bestimmte Phrasen fordert. Eine Wagner’sche Melodie würde ich beispielsweise als fließend und saftig im Ton beschreiben. In der Klassik oder im Barock ist alles viel kürzer, feiner, lebendiger oder auch affektierter. Vielfältigkeit und Anpassungsfähigkeit passen wiederum zu uns als Opernorchester. Wir arbeiten sehr viel mit Sängern zusammen. Wenn wir Sänger begleiten, hat die Phrasierung viel mit der Sprache zu tun. Sich danach zu richten, ist eigentlich schon die historische Aufführungspraxis. Es geht darum, wie man mit einem Ton umgeht. Wir als modernes Orchester sollten das Repertoire von den Spezialisten-Ensembles zurückerobern.
Wie ist Musiktheater unter Corona-Bedingungen möglich?
Kütson: Dadurch, dass auch auf der Bühne die Abstandsregeln gelten, kann man natürlich Oper als klassisches Stehtheater machen, aber mit echtem Musiktheater hat alles so nichts zu tun.
Aber ein noch größeres Problem ist der Orchestergraben.
Kütson: Wir hatten auch vor Corona Produktionen, wie die Gespräche der Karmelitinnen, wo das Orchester auf der Bühne positioniert war und das ganze Geschehen sich davor abspielte. Wir gehen – solange die Abstandsregeln so bleiben – nicht in den Orchestergraben, weil wir dort keine entsprechende Fläche haben. Daher haben wir bei unserer ersten Produktion „Carmen“ nicht die übliche, sondern eine reduzierte Fassung. Die üblicherweise von Ensembles genutzt wird, die begrenzte finanzielle Möglichkeiten oder ganz kleine Orchestergräben haben. Wir möchten es aber flexibel halten – je nachdem, wie sich die Bedingungen ändern.
Ist es auch ein Moment, der einem aufzeigt, was wir sonst für einen Luxus haben?
Kütson: Ich empfinde Kultur nicht als Luxus. Deutschland verdient es, solch ein reichhaltiges Kulturleben zu haben. Wir sehen, was passiert, wenn in einer Gesellschaft Kultur langsam entschwindet, am Beispiel der USA. Dort ist es ein Luxus geworden, an hochwertiger Kultur teilhaben zu können. Und was dabei herauskommt, ist eine Volksverblödung und Verrohung.
Wie möchten Sie Menschen an Kunstmusik heranführen?
Kütson: Am Ende hängt alles vom Bildungssystem ab. Kindergärten und Schulen haben den gesellschaftlichen Auftrag, gebildete Bürger für das Leben vorzubereiten. Und zur Bildung gehören eben auch humanistische und musische Fächer.
Sie als Theater sind da sehr engagiert.
Kütson: Ja, aber Theater und Orchester können nicht alles leisten, nur ergänzen. Unsere Theater- und Musikpädagogik macht sehr viel, um die Jugendlichen mit unseren Angeboten zu erreichen. Worauf es wirklich ankommt, sind die Schulen. Es wird zunehmend schwieriger, die Lehrer und deren Klassen abseits der Weihnachtsbespielung zu einem Theater oder Konzertbesuch zu motivieren. Die Lehrpläne werden immer voller, aber umfassende Bildung immer weniger. Und damit sind sowohl Schüler als auch Lehrer überfordert.
Lassen Sie uns noch über den Theaterplatz sprechen. Hier werden Probleme sichtbar. Was kann da Kultur tun?
Kütson: Hier prallen zwei Welten aufeinander. Das ist besonders. In jeder Stadt gibt es eine Kulturszene und eine Drogenszene. Meistens treffen sie sich nur, wenn das Theater neben dem Hauptbahnhof steht. Aber hier ist es halt ein bisschen anders, weil es ein praktischer Ort für die die Drogenszene ist. Viele versteckte Ecken, viele Fluchtwege, angenehme Sitzgelegenheiten.
Es ist schwierig – wie könnte man helfen?
Kütson: Da muss es soziale Angebote geben, damit sich die Betroffenen im Leben zurechtfinden können.
Was müsste mit diesem Platz passieren, damit er das ist, was er sein sollte – das kulturelle Herz der Stadt?
Kütson: Es bräuchte viel Menschenverkehr auf einem lebendigen Platz. Ein einzelnes Bürgerbüro hilft da nicht.
Wie und wo wünschen Sie sich den zukünftigen Konzertsaal Krefelds? Das Seidenweberhaus wird irgendwann, wohl 2024, weichen.
Kütson: Unser Wunsch ist, dass wir in der Stadt sind. So mittendrin, wie es nur geht. Das Problem ist die Frage, wo es einen geeigneten Platz gibt. Ein Konzertsaal muss mittendrin sein. Ein Ort, wo Menschen sich auch außerhalb der Konzertzeiten gerne aufhalten.
Dieser Platz an sich wäre ja nicht verkehrt.
Kütson: Der Platz wäre perfekt. Aber es ist politisch anders gewollt. Hier kommt ein Verwaltungsgebäude hin. An einem der besten Plätze in der Stadt. Muss ein Verwaltungsgebäude mitten in der Stadt sein?
Aber man kann darüber reden, wenn der Generalmusikdirektor emphatisch betont, dass das Konzerthaus in die Stadt gehört. Wurden Sie schon gefragt?
Kütson: Ja, mir wurde zugesichert, dass man auf mich zukomme. Es gab einige Überlegungen, wobei das Kesselhaus im Mies-van-der-Rohe-Business-Park ziemlich abgelegen ist. Und als richtiger Ort für Kultur eher gezwungen wirken würde.
Wie viele Plätze braucht ein Krefelder Konzertsaal?
Kütson: Mit einem Saal von der Größe des Seidenweberhauses finde ich schon richtig zu rechnen. Das wären rund 800.
Also knapp unter 1000.
Kütson: Wenn das Gebäude an einem attraktiven, lebendigen Ort steht, ein einladender Bau ist, wo man gerne hingeht, ist auch ein 1200-Plätze-Haus für Krefeld nicht zu groß. Das Publikum wäre da. Der jetzige Konzertort ist alles andere als einladend. Auch das Theater ist sanierungsbedürftig und für Konzerte nicht geeignet. Eine Konzerthalle gehört zu einer Stadt.