Premiere im Stadttheater: Fragwürdige Doppelmoral

Im Stadttheater wird Verdis Oper „Stiffelio“ musikalisch zum Ereignis, die Handlung bleibt fremd.

Foto: Matthias Stutte

Krefeld. Ehebruchgeschichten kratzten im 19. Jahrhundert an der herrschenden Moral, galten mithin als modern. Guiseppe Verdis 1850 uraufgeführte Oper „Stiffelio“ hatte vielleicht deshalb im katholisch geprägten Italien keinen Erfolg. Aus seiner Jetztzeit verlegte Verdi darum den Stoff ins 13. Jahrhundert, machte aus dem Drama um die Ehe eines protestantischen Pfarrers eine Kreuzrittergeschichte, wohl, um seine Musik zu erhalten: Aus „Stiffelio“ wurde „Aroldo“. Der erst Ende der 1960er Jahre wiederentdeckte Original-„Stiffelio“ wurde zum Sonderfall der Musikgeschichte. Im Stadttheater feierte „Stiffelio“ jetzt eine umjubelte Premiere.

Pfarrer Stiffelio (Kairschan Scholdybajew) kehrt von einer Reise zurück, da ist der Ehebruch seiner Frau Lina (Izabela Matula) mit Raffaele (Michael Siemon) schon geschehen. Die Gemeinde weiß Bescheid, Linas Vater Stankar (Johannes Schwärsky) ahnt die Verfehlung. Am Ende wissen es trotz mehrfacher Vertuschungsversuche alle, und Linas Vater tötet den Ehebrecher Raffaele, um die Schande seiner Tochter zu sühnen. Nicht nur das wirkt aus heutiger Sicht keineswegs mehr modern.

Regisseurin Helen Malkowsky, Bühnenbildner Hartmut Schörghofer und Kostümbildnerin Susanne Hubrich haben dem Drama um Schuld und Sühne, dem Schwanken Stiffelios zwischen archaisch-männlicher Rachsucht und christlicher Vergebung wohl von Anfang an nicht getraut. Sie sperren die Handlung in die hermetisch abgeschlossene Welt einer Sekte, entrücken sie damit in zwar nicht historische, aber dennoch weite Ferne.

Auf dem Vorhang prangt eine Alpen-Idylle, die für ein falsches Selbstbild stehen mag, die Bühne aber zwingt die Gemeinde in ein Verlies aus übermannshohen Mauern. Die Gemeinde (der Chor) trägt uniforme Gebetstücher als Schal, nur der alte Oberst Stankar fällt mit Militärmantel, Orden und wallender Mähne aus dem Rahmen.

Bei Verdi geschieht der Mord an Raffaele hinter den Kulissen, Malkowsky lässt Stankar den Ehebrecher auf offener Bühne erstechen. Dass Stiffelio sich am Ende zu christlicher Vergebung durchringt, spielt da keine Rolle mehr. Malkowsky muss der Sekte ihre Doppelmoral sichtbar vorhalten — aber die Musik . . .

Die Musik kittet die Widersprüche der Figuren und der Inszenierung nicht, aber was dramaturgisch bedenklich ist, wird auf der musikalischen Ebene nicht nur genießbar, sondern größtenteils ein Genuss. Wie etwa der Bariton Schwärsky sich musikalisch getragen in seinem Schmerz suhlt, um unmittelbar im Anschluss mit hüpfender Orchesterbegleitung seine Rachlust zu besingen, das ist großartig.

Matulas Sopran strahlt schmerzfrei schön — trotz all der reuevollen Texte —, und auch Tenor Scholdybajew könnte glänzen, doch hemmte ihn bei der Premiere hörbar eine Erkältung. In mehreren in der Stimmführung meisterlichen Ensembles treten die gesanglich sonst eher unterbeschäftigten Nebenrollen hervor. Das Orchester unter Leitung von Mihkel Kütson und der von Maria Benyumova geführte Chor sind wie gewohnt von einer Qualität, um die Krefeld von größeren Bühnen beneidet werden kann. Das Publikum dankte mit Bravi und stehenden Ovationen.