Stadttheater: Der König in seinem Trümmerreich
Joachim Henschke ringt mit dem Lear. Doch der Abend wird nicht zur One-Man-Show — auch andere Darsteller ragen heraus.
Krefeld. Dieser Lear säße heute im Altenheim, medikamentös eingestellt und regelmäßig gefüttert. Der alte König fände dort seinen inneren Frieden, der Rest der Bagage hätte endlich seine Ruhe. Doch die Frage aus Shakespeares „König Lear“ wäre letztlich noch die gleiche: Wie gehen wir mit unseren Alten um, auch mit den störrischen, gemeinen und dementen?
Was dem König geschieht in dieser unausweichlichen Tragödie, die am Samstag im Stadttheater Premiere feierte, hat er sich selbst zuzuschreiben. Lear vererbt sein Reich, doch vorher will er Liebesschwüre seiner drei Töchter hören. Zwei raspeln Süßholz, die dritte weigert sich mitzuspielen. Er verstößt sie und sieht in der Folge sein Reich und seine Familie zerfallen, bis auch sein Verstand sich aufzulösen beginnt.
Regisseur Matthias Gehrt und seine Bühnenbildnerin Gabriele Trinczek haben ein großartiges Bild für diesen Niedergang gefunden. Anfangs arrangieren sie die Familie wie ein Tableau auf makellos weißem Grund. Doch dieses Fundament zerfällt mit jedem Schritt, weil es nur aus dünnen Papierbahnen besteht, die über feuchte Erde gespannt sind. Am Ende bleibt ein „Trümmerreich“, wie es im Stück heißt, nur Fetzen und Dreck. Die Vergangenheit klebt unter den Sohlen.
Auch Lear (Joachim Henschke) ist schwer gezeichnet. Zu Anfang fläzt er sich noch auf seinem Thron, ein eitler Patriarch im feinen Anzug (Kostüme: Sibylle Gädeke), Machtmensch und Gewohnheitsherrscher. Später bleibt ein Narr in schmutzigen Unterhosen übrig, wirr und klapprig.
Henschke ringt mit dieser Figur, er scheint sie kaum zu fassen zu kriegen, so irrational sind ihre Stimmungsschwankungen — die cholerischen Flüche, die endlose Traurigkeit und schließlich der Wahnsinn, der fast albern wirkt, wie es auch bei Demenzkranken der Fall sein kann. Bei solchen Extremen ist die Gefahr, theatral zu überziehen, stets gegeben. Gelegentlich tappt Henschke in diese Falle, doch er findet immer wieder zu sich, vor allem in den ruhigen Szenen, am Bühnenrand hockend, nah beim Publikum.
Dennoch ist dieser „Lear“ keine One-Man-Show, sondern ein Ensemblestück, in dem weitere Darsteller herausragen: Johanna Geißler als eiskalte Regan, die wie ihr Vater urplötzlich zum Vulkan werden kann; Adrian Linke als Albany, zurückhaltend wie selten und gerade deshalb enorm wirkungsvoll; Paul Steinbach, als loyaler Kent die Stimme der Vernunft inmitten des Wahnsinns.
Zum emotionalen Fixpunkt wird Ronny Tomiska als Edgar, der verstoßene Sohn in der zweiten Tragödie, die Shakespeare parallel erzählt. Nach einer Intrige seines Halbbruders (lustvoll böse: Cornelius Gebert) muss Edgar vor dem Zorn seines Vaters (Bruno Winzen) fliehen. Als Bettler Tom schleicht er fortan durch die Welt. Tomiskas leise, fast scheue Auftritte machen das ganze herzzerreißende Elend dieses doppelten Familiendramas sichtbar.
Es sind zugleich Momente, in denen die zügig nach vorne eilende Handlung innezuhalten scheint, in denen Geschrei und Theaterdonner verstummen und sogar Lears Wahnsinn schweigt. Dann fällt auf, wie straff Gehrt diese Geschichte ansonsten durcherzählt, mit vielen Stationen, die bloß schnelle Haltepunkte sind, ohne einen intensiven Blick zuzulassen. Schon die Textfassung von Luc Bondy und anderen gibt das vor. Sie löst die Verse in teils profaner Prosa auf, die Gehrt an einer Stelle sogar rappen lässt, was zu nichts führt außer zu peinlich berührten Blicken im Publikum.
So perfekt das Bühnenbild den Boden bereitet, so sehr wird es damit sinnbildlich für die Inszenierung: Sie kratzt selten mehr weg als nur die oberste Schicht.
Weitere Termine: 16., 26. April, 3., 11., 12., 16., 18., 23. Mai, 19., 24. Juli. Karten unter Telefon 805 125.