Integration Nesrin Omar macht Geflüchteten Mut

Wegen des Krieges ist die 38-jährige Syrerin nach Deutschland geflohen. Mit viel Elan und Willenskraft hat sie sich integriert.

Foto: Andreas Bischof

Krefeld. Nesrin Omar hat den Glauben an das Gute im Leben nicht verloren. Trotz der Flucht vor dem jahrelangen Krieg in Syrien und der Terrormiliz „Islamischer Staat“, die die Kurdin und andere Syrerinnen mit Gewalt zwingen wollt, Kopftuch zu tragen und ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Sie musste erleben, wie im Namen Allahs Menschen umgebracht wurden. Nur mit zwei Hosen und einem T-Shirt verließ sie schweren Herzens 2013 ihre Heimat. Mehr als drei Jahre später, beim Gespräch im Büro des Flüchtlingskoordinators, strahlt sie übers ganze Gesicht. Nesrin Omar hat sich hier mit tatkräftiger Unterstützung und großem eigenen Engagement ein neues Leben aufgebaut. „Man muss daran glauben, dass etwas Gutes kommt“, sagt sie — und will damit in Deutschland lebenden Geflüchteten Mut machen.

„Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen kennengelernt, die mir auf vielfältige Weise geholfen haben“, erzählt sie in fast fließendem Deutsch. Von Beginn an habe sie intensiv die Sprache gelernt — ein Schlüssel für neue Begegnungen.

Diese Erfahrung hat sie auch in ihrer Heimat gemacht. Mit sechs Jahren zieht sie mit ihren Eltern und zwei weiteren Geschwistern aus ihrem Dorf in die Großstadt Aleppo. „Die Schule ist dort besser gewesen“, erzählt die heute 38-Jährige. Sie absolviert ein Studium im Computer-Bereich, arbeitet anschließend fünf Jahre lang in einem Logistik-Unternehmen, wo sie neben ihren Sprachkenntnissen in Arabisch und Kurdisch im Bereich Import und Export auch ihre Sprachfähigkeiten in Englisch erweitert. Anschließend wechselt sie in den Bereich Verkauf und Marketing bei einer Pharma-Firma, die mit ihren Medikamenten Apotheken und Krankenhäuser beliefern. Doch der Bürgerkrieg kommt immer näher.

Im Sommer 2013 beginnen in Aleppo die schweren Kämpfe zwischen den regierungstreuen Gruppen von Syriens Machthaber Baschar al-Assadden und den verschiedenen Rebellen-Gruppen. Ein Jahr später kann Nesrin Omar nicht mehr zur Arbeit gehen. Es ist zu gefährlich, unter anderem weil sie kein Kopftuch trägt. „Die IS hat uns Frauen unter Druck gesetzt, Kopftuch zu tragen — entweder oder . . . lautete ihre Drohung“, erinnert sich Nesin Omar.

Was das Oder bedeutet, ist ihr längst bewusst. Dennoch harrt sie mit ihrer Mutter, der Vater ist vor Jahren verstorben, in ihrem Haus in Aleppo aus, hofft, dass der Krieg bald aufhört. Die Zerstörungen um sie herum werden immer größer. „Unser Haus lag genau zwischen den Stellungen der Opposition und dem Regierungsviertel.“ Unzählige Bomben fallen.

Mit ihrer inzwischen 69 Jahre alten Mutter entschließt sie sich, zurück in ihr Dorf zu kehren. Der älteste Bruder lebt noch dort. Ihr anderer Bruder ist zu dem Zeitpunkt schon in den Niederlanden, ihre Schwester in Köln. Arbeit gibt es für die gut ausgebildete Frau in der von Landwirtschaft lebenden Region keine. Im Alter von 35 Jahren entscheidet sie sich, nach zahlreichen Gesprächen mit ihrer Familie, alleine das Land zu verlassen.

Sie überlegt, nach Thailand auszuwandern. „Dafür braucht man kein Visum“, sagt sie. Dass sie letztendlich doch in Deutschland gelandet ist, verdankt sie ihrem hier lebenden Onkel, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Bis dahin kannte sie ihn und seine Familie noch nicht einmal. „Als er hörte, dass ich am Flughafen sei, hat er mich sofort angerufen — und eingeladen“, erzählt Nesrin Omar. Der Onkel bürgt für sie, übernimmt all ihre Kosten, so dass sie nicht auf staatliche, finanzielle Unterstützung angewiesen ist.

Ein Jahr lang lebt sie in Warendorf bei ihrem Onkel und ihrer Tante, besucht emsig für sechs Monate die Sprachschule im nahen Münster. Ihre Mutter kann über die Familienzusammenführung nachkommen. Sie lebt heute bei ihrer anderen Tochter in Köln. Dennoch geht es Nesrin Omar, vor allem psychisch, sehr schlecht: „Die erste Phase hier in einem fremden Land war schwer für mich, ein neues Leben, eine neue Sprache, eine fremde Kultur — und eine ungewisse Zukunft, dich mich sehr belastet hat.“

Auf Empfehlung geht sie zur Frauenberatungsstelle, kann sich ihre Ängste und Sorgen erstmals von der Seele reden und wird eingeladen zu einem Ausdruckstanz für traumatisierte Frauen unterschiedlicher Herkunft. Das tut ihr gut. Nicht nur, weil sie erstmals selbstständig und ohne große Angst vor die Tür geht.

Die Leiterin lädt sie an diesem Abend ein, regelmäßig wöchentlich in ihrer Tanzhalle in Osnabrück an einem Kurs teilzunehmen. In Rücksprache mit ihrem Onkel sagt sie zu — ohne zu ahnen, dass sich dadurch ihr Leben komplett verändern wird. „Ich habe dort meinen heutigen Mann Ingo kennengelernt“, erzählt sie glücklich. Doch bis die beiden am 20. Oktober 2015 heiraten konnten, war es ein weiter Weg.

„In Syrien sind die Frauen muslimisch und dürfen keine Männer einer anderen Konfession heiraten“, erklärt sie. Lange, eindringliche Gespräche mit ihrer Mutter und ihrer Familie folgen, als sie merkt, dass sie sich verliebt hat. Ihre Familie ist in Sorge um sie, will sie vor Schmerz und Schaden bewahren. Doch die Liebe und das Vertrauen in die Tochter, Schwester und Nichte siegen, schlussendlich, als ihr heutiger Mann entschlossen um ihre Hand anhält.

Als Nesrin Omar die von den deutschen Behörden geforderte Bescheinigung aus Syrien nicht vorlegen kann, dass sie unverheiratet ist, lässt sich das Paar ohne dieses Schriftstück unbürokratisch in Dänemark trauen. Die Eheschließung ist EU-weit anerkannt, ihr Aufenthaltsstatus in Deutschland damit jetzt unbegrenzt.

In ihrem neuen Wohnort Osnabrück folgt sie der Einladung eines Berufsschullehrers, vor seiner Klasse angehender Sozialpädagogen die Geschichte ihrer Flucht und ihres Neubeginns zu erzählen. Und wieder öffnet sich für die Syrerin eine neue Tür in ihrem Leben.

Der Lehrer ist so begeistert von der Art ihres lebendigen, informativen Vortrages und ihren Fähigkeiten, dass er sie spontan fragt, ob sie nicht eine Ausbildung zur Sozialassistentin machen wolle. Sie will. Statt in den dafür vorgesehenen zwei Jahren absolviert sie den Schulstoff in einem und übt nebenbei fleißig weiter die Deutsche Sprache.

Während dieser Zeit baut ihr Mann einen Jeep zum Reisemobil um. Er will nach 20 Jahren Osnabrück verlassen und mit Nesrin Omar zu einer Reise quer durch Europa aufbrechen. Im Juni 2016 schließt sie ihre Ausbildung mit Erfolg ab, einen Monat darauf fahren die Beiden mit kleinem Gepäck los.

„Fünf Monate waren wir unterwegs, zehn Länder haben wir besucht“, erzählt die 38-Jährige immer noch ganz begeistert. Die Begegnungen mit fremden Menschen und anderen Kulturen saugt sie auf. „Das Reisen hat meinen Horizont erweitert und mich bestärkt, mit Menschen zu arbeiten, ihnen bei der Integration in Deutschland zu helfen.“

Seit einem Monat ist sie wieder in Deutschland. Derzeit wohnt sie mit ihrem Mann bei den deutschen Schwiegereltern in Rheurdt. Auf der Suche nach einem Begegnungscafé für Flüchtlinge am Niederrhein ist sie auf die Initiative in Traar gestoßen. Und wieder öffnet sich eine neue Tür für sie.

Über die Traarer erfährt sie von der VHS-Veranstaltung „Flucht und Trauma“ am 11. Januar, wo sie vor Publikum ihre Geschichte erzählt. Im Publikum sitzt auch Flüchtlingskoordinator Hansgeorg Rehbein. Er ist überall auf der Suche nach Helfern für die Integrationsarbeit in Krefeld. „Er hat mich direkt für den nächsten Tag in sein Büro eingeladen“, erzählt Nesrin Omar — und strahlt. Wegen ihrer Sprachkompetenz, ihrer Ausbildung und auch wegen ihrer Lebensgeschichte möchte Rehbein gerne mit ihr als Honorarkraft zusammenarbeiten.

Die mutige Frau könne anderen geflüchteten Menschen Mut machen, selber initiativ zu werden, die Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu beginnen. Alles Voraussetzungen für eine gelingende Integration. Auch die Stadt Geldern ist über eine Bewerbung auf sie aufmerksam geworden. „Vielleicht bekomme ich dort sogar eine feste Stelle angeboten.“ Dann wird sie mit ihrem Mann auch dort hinziehen, ansonsten siedeln sie um nach Krefeld. Ihre Erkenntnis aus all ihrem Leid: „Auch wenn man alles aufgeben muss, gibt es einen Neuanfang. Nur wer sich bewegt, kann etwas bewegen.“