Selbstbestimmt leben mit Körperbehinderung "Siggi ersetzt meine Arme und Beine"

Selbstbestimmt leben, ist für viele Körperbehinderte nicht selbstverständlich. Eine Krefelderin erzählt, wie das bei ihr klappt.

Foto: Andreas Bischof

Krefeld. Sigrid Staudinger ist Sabine Weinmanns Hand. Sie ist ihr Fuß, ihr Bein, ihr Arm. Sabine Weinmann sitzt im Rollstuhl, ihre Gliedmaßen sind mit Gurten fixiert. Die 41-Jährige leidet an einer Tetraspastik, Sauerstoffmangel bei der Geburt. „Mein Gehirn führt im Hintergrund unwillkürliche, für mich nicht steuerbare Bewegungen aus“, erklärt Weinmann, was die Behinderung für sie seit ihrer Kindheit im Alltag bedeutet.

Ohne Sigrid Staudinger käme Sabine Weinmann morgens nicht aus dem Bett. „Sie hilft mir beim Aufstehen, beim Waschen und Anziehen, dabei auf die Toilette zu gehen, sie macht mein Frühstück, danach die Hausarbeit . . . “ Die Liste ist lang. Wie wichtig Sigrid Staudinger in Sabine Weinmanns Leben ist, fasst die knapp in einem Satz zusammen: „Siggi ersetzt meine Arme und Beine.“

Sabine Weinmann ist einer von, so schätzt sie, zwei oder drei körperbehinderten Menschen in Krefeld, die selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden leben. Ein ausgeklügeltes System mit einem Assistenzteam aus sechs Personen sorgt dafür, dass das funktioniert — 24 Stunden am Tag. Und das bedeutet so viel mehr als Brote schmieren oder die Fingernägel auffällig Lila zu lackieren. „Mit meinen Assistenzen gehe ich ins Kino, zum Feiern in die Kufa und ich besuche die Spiele der Krefeld Pinguine“, zählt Sabine Weinmann auf. Eben das, was man im Volksmund so sperrig „gesellschaftliches Teilhabe“ nennt.

Als sie in der WZ vom Schicksal der 48-Jährigen Iris Berg aus Tönisvorst liest, die wegen einer Muskelerkrankung an den Rollstuhl gefesselt und auf ein Beatmungsgerät angewiesen ist und verzweifelt nach einer examinierten Pflegekraft sucht, die sie zuhause unterstützt („Wer kann Iris Berg helfen?“, 22. November), greift Weinmann zum Telefon und meldet sich in der Redaktion. „Ich war selbst schon an dem Punkt“, erzählt die 41-Jährige.

Als sie vor acht Jahren den Wunsch gefasst hat, selbstbestimmt, ohne im Alltag auf die ständige Unterstützung ihrer Mutter angewiesen zu sein, zu leben, war sie plötzlich allein.

„Es gibt in Krefeld keine Stellen, an die sich körperbehinderte Menschen in solchen Situationen wenden können, auch ein Assistenzsystem gab es nicht“, sagt Weinmann. Beim zuständigem Träger, dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), habe man ihr damals gesagt: „Ihre Mutter ist doch da, um Ihnen zu helfen.“ Ihre Selbstständigkeit musste sich Sabine Weinmann anschließend hart erkämpfen. Mit Erfolg: Seit 2009 lebt sie selbstbestimmt mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung.

Sie weiß: „Es ist schwer, geschultes Personal zu finden.“ Aber die 41-Jährige, die eine Lotsen-Ausbildung des Kölner Zentrums für selbstbestimmtes Leben durchlaufen hat und seitdem ehrenamtlich Ansprechpartnerin für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in Krefeld und Umgebung ist, hat für Betroffene wie Iris Berg einen Rat: „Man kann einen Aufruf bei Krankenhausschulen am Schwarzen Brett oder bei Ebay Kleinanzeigen starten, eine Zeitungsannonce schreiben oder über die Agentur für Arbeit eine Stellenanzeige schalten.“

Auf eine Zeitungsanzeige habe sich vor drei Jahren auch Sigrid Staudinger bei ihr gemeldet. Ein Volltreffer — für beide. Ihr Managementjob in der Münchener Modebranche hat Sigrid Staudinger ausgebrannt. Die Liebe und die Frage „Was fange ich jetzt mit meinem Leben an?“ habe sie nach Krefeld geführt. Die Beziehung ist zwar zerbrochen, Sabine Weinmann war aber mindestens ein Grund, warum Siggi auch nach der Trennung nicht in ihre bayerische Heimat zurückgehen wollte. „Die Chemie zwischen uns stimmt einfach“, sagt sie und das verschwörerische Lachen der beiden Frauen lässt keinen Zweifel daran.

Trotzdem: Sigrid Staudinger versteht die Sorge vieler junger Frauen und Männer, sich nach der Ausbildung als Heilerziehungspfleger auf einen Job wie den ihren einzulassen, nur zu gut. Zum 1. Dezember ist das Bundesteilhabegesetz geändert worden. „Keiner weiß heute, was sich bei den Kostenträgern ändert. Es kann gut sein, dass der Assistenzbereich abgesägt wird.“ Es gehe ums Geld und Fragen, die mit der Realität wenig zu tun hätten: „Wie viel Pflege darf ein Mensch bekommen? Wie lange darf Zähneputzen dauern?“

Betroffen sei eine Minderheit, „die Angst dann in ein Heim abgeschoben zu werden, ist schon da“, sagt Sabine Weinmann. Auch wenn der kaum kostengünstiger sein könne als die Assistenzpflege zuhause.

Ein weiterer Grund für die 41-Jährige, als Lotsin und „Expertin in eigener Sache“ anderen körperbehinderten Menschen in Krefeld bei sozialrechtlichen und psychosozialen Fragen einen Weg zu den entsprechenden Anlaufstellen aufzuzeigen. „Ich würde bei so vielen Fragen gerne aus eigener Erfahrung helfen, leider klappt das bisher viel zu selten.“ Sabine Weinmanns großer Wunsch: „Ich würde mein Wissen gerne viel häufiger weitergeben, um anderen damit zu helfen.“