So hört sich Geschichte an

Führungen im Historischen Zentrum Wuppertal sind laut: Es klappert, es rappelt, und der Boden vibriert. Industrialisierung wird für die Besucher erlebbar gemacht.

Foto: Stefan Fries

Wuppertal. Die Industrialisierung des europäischen Festlandes begann in Barmen und Elberfeld. Der Kommunismus gewissermaßen auch. Zumindest wurde er in Teilen dort erdacht. Das Historische Zentrum Wuppertal führt beide Geschichten im Museum für Frühindustrialisierung zusammen. Wer dort eine Führung bucht, der lernt Geschichte hören und fühlen. Es klappert, es rappelt, der Boden vibriert, der Lärm ist auf Dauer ohrenbetäubend. Deshalb dauert er auch nicht so lange.

Die Museumspädagogen haben ein Gespür für ihre Gäste und drücken immer rechtzeitig den Knopf, der den Strom unterbricht. Strom? Ja, heute werden die Webstühle, Klöppel- und Flechtmaschinen mit Energie aus der Steckdose betrieben. Das war zu Zeiten, als die Industrialisierung im Tal der Wupper begann, ganz anders. Damals, im ausklingenden 18. Jahrhundert, nutzten Schmiede die Kraft des Wassers, um per Mühlrad mächtige Hämmer zu bewegen. Wasser trieb auch die schweren Steine der Schleifer an.

Im Wupper-Tal wussten die Menschen aus der Not mit den großen Niederschlagsmengen eine Tugend zu machen. Wie die einfachen, aber effektiven Geräte funktionieren, zeigen Funktionsmodelle mit Liebe zum Detail in der großen Eingangshalle des roten Backsteinbaus. Und dann kam die Maschine. Wer sich wie Lehrer Bömmel in der „Feuerzangenbowle“ die Frage stellt, „wat’ n Dampfmaschin“ ist, bekommt die Antwort unter lautem Stampfen und Zischen. Das Modell aus dem Jahr 1900 funktioniert immer noch reibungslos und treibt scheinbar spielend leicht den riesigen Treibriemen an.

Wer das sieht, kann sich vorstellen, wie so ein Koloss das Herz einer Produktionsstätte aus der Zeit der Frühindustrialisierung sein konnte. Wie damals steht die Maschine auf fein säuberlich gefliestem Boden. Wo das Aggregat stand, war das Wohnzimmer einer jeden Fabrik. Die Kohle wurde abseits geschaufelt. Maschinen sollten sauber wirken, kräftig, unnahbar, unantastbar. Der Reiz des Museums liegt darin, dass es den Widerspruch von ewigem Aufschwung dank technischen Fortschritts und der Gewissensfrage des jungen, wohlhabenden Friedrich Engels dokumentiert. Wo der Besucher sich vielleicht in technischen Details verlieren könnte, mahnen Zitate aus Schriften von Engels, dass Fortschritt immer auch Verlierer kennt.

Für Männer, Frauen und Kinder aus der Unterschicht war die beginnende und dann immer schneller fortschreitende Industrialisierung die Hölle. Frauen und Kinder spannen in überheizten Räumen mit 85 und mehr Prozent Luftfeuchtigkeit Baumwolle zu endlos langen Fäden. In den ohne jeden Gedanken an Sicherheit gebauten Maschinen riskieren sie jeden Tag Leib und Leben. An Schule dachte zunächst niemand. Erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts verfügte der Kaiser, dass Kinder eine Schule besuchen müssen.

Die Fabrikanten wussten das geschickt zu umgehen. Sie lehrten die Kleinen Fleiß, Pünktlichkeit und Gehorsam. Lehrer hießen Stock und Peitsche. Für Arbeiter kann das kein Leben gewesen sein. Sie fristeten ihr tristes Dasein auf der dunklen Seite des Fortschritts. Die Dampfmaschine machte ihnen das Leben nicht leichter, aber ihr Arbeitsleben effektiver — für den Fabrikanten. Auf der hellen Seite war Genialität.

Im Museum machen die Besucher Bekanntschaft mit dem vielleicht ersten Computer der Welt. Der Franzose Joseph-Marie Jacquard hat Anfang des 19. Jahrhunderts eine Bandwebmaschine konstruiert, die erstmals Hardware von Software trennte. Er konnte mit Hilfe von Lochkarten die Muster bestimmen, die gewebt werden. Dass seine Maschine wirklich funktioniert, beweist sie laut, aber elegant im ersten Obergeschoss des Historischen Zentrums Wuppertal. Diese Technik begründete den Reichtum der Städte Elberfeld und Barmen.

Barmer Waren sind weltweit ein Begriff beispielsweise für Bänder und Schnürriemen gewesen. Die Ausstellung verschweigt dabei nicht, dass für diesen wirtschaftlichen Erfolg Industriespionage in England notwendig gewesen ist. Ein Barmer Fabrikant hatte in England eine Maschine entdeckt, kopiert und perfektioniert. Die beiden Städte an der Wupper zählten damals zu den Metropolen des Kaiserreiches, als beispielsweise Düsseldorf noch ein unbedeutendes Städtchen am Rhein gewesen ist.

Kurz und bündig, aber lange nachwirkend, werden die Besucher über einen neonbeleuchteten Zeittunnel in die Phase der produzierenden Wirtschaft zurückgeführt, in denen Wind-, Wasser- und Muskelkraft darüber bestimmten, was wann wo produziert werden konnte. Am Eingang zum Tunnel steht eine Stechuhr wie ein Mahnmal dafür, dass der Mensch Sklave der Uhr geworden ist. Die Zeit übernimmt die Kontrolle über die Arbeit. Was das für die Frauen, Kinder und Männer in den Fabriken bedeutete, beschreiben sogenannte Polizeiprotokolle. Lausige Zeiten, und die Stechuhr machte sie noch schlimmer.

Das Museum für Frühindustrialisierung ist generationentauglich. Hier kann der Großvater seinem Enkel zeigen, wie er früher in der Textilfabrik gearbeitet hat. Hier lernt der Enkel, wie Deutschland zu dem Wohlstand gekommen ist, von dem er selbst heute profitiert. Und ein bisschen Demut ist unter Umständen auch im Angebot. Da aber auch die außergewöhnlichsten Exponate im digitalen Zeitalter ohne Animation nicht mehr auf jeden wirken, bietet das Museum Rallyes für Kinder, sehr sachkundige Führungen für Gruppen bis zu 30 Personen beispielsweise aus Schulen sowie Oma-Opa-Enkel-Nachmittage an.

Für sein Konzept und die Beschäftigung mit einer für Europa entscheidenden Epoche ist das Museum für Frühindustrialisierung im Jahr nach seiner Eröffnung mit dem Preis des Europarates ausgezeichnet worden. Zum Museum gehören zwei Gebäude, die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden, und das Wohnhaus der Familie Engels.