„Suo schüen mot et em Paradies siehn“
Wenn an der Gneisenau- und Waldhofstraße die japanischen Kirschbäume blühen, ist Hedwig Wittmann (94) ihr größter Fan. Dann läuft sie auf der Fahrbahn und blickt nach oben.
Bockum. Einmal im Jahr wird Hedwig Wittmann, die 1915 im Schatten der Bockumer Gertrudiskirche geboren wurde, dem Ortskern untreu: Wenn in Bockum-West die japanischen Kirschbäume auf der Gneisenau- und Waldhofstraße in voller Blühte stehen, geht die bekannte Mundartdichterin gemächlich mitten auf der Straße durch den Blütendom. Dabei spricht sie halblaut: "Suo schüen mot et em Paradies siehn". Und wenn ein Autofahrer hupt, dann hört man nur noch ein "Kiek mar ens noe Boewe!"
"Die Wittmann", wie die rüstige Seniorin allenthalben in Bockum genannt wird, hat nach eigenen Angaben mehrere Leben gelebt. Ihre Jugendjahre waren überschattet durch Nachwirkungen des ersten und die Schrecken des zweiten Weltkrieges. Ihre Eltern hatten Ecke Uerdinger/Verberger Straße ein Fahrradgeschäft, das die Familie so gerade ernährte. Sie wuchs auf zusammen mit vier Brüdern, von denen keiner den Krieg überlebte. Hedwig Wittmann kümmerte sich um ihre Eltern "on dä jruote Jaard".
Später im Beruf war sie lange Jahre die Sekretärin des Stadtkämmerers Dr. Felix Walpurger. Die Zeit im Krefelder Rathaus hat sie sehr geprägt. Als sie in den Ruhestand trat, begann das Leben als "Freifrau". Sie widmete sich vielen sozial Benachteiligten, war fleißige Sammlerin der Krefelder Familienhilfe und entdeckte die Mundart wieder neu.
Vier Bücher hat sie herausgegeben. Mit einer hervorragenden Beobachtungsgabe ausgestattet, beschreibt sie Erlebnisse und Geschehnisse. Ihre Vorbilder waren Johanna Overdick (Hannche van´t Ennert) und Theo Mülders. Auch in zahlreichen Veröffentlichungen wie in der Zeitschrift "Krefelder Familie" und in den Sammelbänden "Os Beäs op Platt" und in der Schriftenreihe "Stimmen der Landschaft" kann man ihre Beiträge lesen.
Lange Jahre hat sie in Krefelder Heimen und im Eifelgut Schirmau die Menschen mit ihren "Stöckskes" erfreut. Hedwig Wittmann kann keine Einladung ausschlagen: "Wenn die Zuhörer über meine Geschichten schmunzeln, ist das für mich der schönste Dank". In den 1980er Jahren stieß sie zum Kreis 23 und der Gruppe Rheinischer Mundartschriftsteller.
Sie wurde als Mundartautorin und für ihr soziales Engagement mehrfach ausgezeichnet. Erst vor einigen Monaten erhielt sie den Rheinlandtaler des Landes NRW. Die 94-Jährige, die heute noch ihren Haushalt selbst managt, erfreute sich lange bester Gesundheit. "Van mech es kinnen Dokter rieek jeworde, doch av on tu donnt mech jetz de Knöek wieeh", sagt sie nicht ohne stolz.
Die agile Frau, die nicht geheiratet hat, bezeichnet den Kirchenchor St. Gertrudis als ihre Familie. Längst ist sie, die seit mehr als siebzig Jahren zum Lobe Gottes singt, Ehrenmitglied. Ein weiteres Beispiel ihrer Treue zur Heimat: Obwohl sie schon viele Jahre auf der Nießenstraße wohnt, sammelt sie noch immer auf der Verberger Straße für den Kranz eines Nachbarn. "Ech kann doch net ophüere", meint sie lakonisch.