Inforeihe Psyche Wenn die Angst allgegenwärtig ist

Angst ist eine Massenkrankheit — 15 Prozent der Deutschen leiden darunter. Laut Experten vom Alexianer ist sie gut therapierbar.

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Krefeld. Was Michael Jackson, Johann Wolfgang von Goethe, Steven Spielberg und Abraham Lincoln eint? Die Angst vor Spinnen oder Katzen, Höhenangst — sie alle litten oder leiden an einer Angststörung. Und damit sind sie nicht allein: Nach dem Bundes-Gesundheitssurvey, einer 2013 nochmals überprüften Reihenuntersuchung der Bundesregierung, sind etwa 15 Prozent der Deutschen betroffen.

Angst gehört zu unserem Leben. „Sie ist ein natürlicher und nützlicher Schutzmechanismus. Angst lässt uns in Gefahrensituationen schnell reagieren. Normalerweise baut sich angstbedingte Anspannung genauso schnell wieder ab, wie sie aufgebaut wurde“, sagt Dr. Andreas Horn, Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie am Alexianer Krankenhaus.

Angst vor Prüfungen oder Krankheiten, vor bestimmten Tieren, Menschenmassen oder dem Alleinsein: „Krankhaft wird Angst immer dann, wenn sie der Situation unangemessen ist“, erklärt Horn. „Wenn der Betroffene etwa ohne tatsächlichen Grund anhaltend darüber besorgt ist, dass etwas Schlimmes passieren könnte.“ Angst ist eine Massenkrankheit. Etwa zehn Millionen Menschen bundesweit leiden laut Bundes-Gesundheitssurvey regelmäßig Angstzustände; eine Million gilt als chronisch angstkrank.

So wie Thomas Ritter (Name von der Redaktion geändert). „Wenn Sie mich vor einem halben Jahr gefragt hätten, was Angststörungen sind, hätte ich keine Ahnung gehabt“, sagt der 48-jährige Familienvater aus Krefeld. Die Angst kam „von jetzt auf gleich“.

Den Ingenieur Thomas Ritter überfällt sie zum ersten Mal im Auto, auf dem Weg zu einem Kunden. „Die Hände fingen plötzlich an zu zittern, meine Knie waren wackelig.“ Sein erster Gedanke: Kreislaufprobleme, eine sich anbahnende Grippe vielleicht. Zwei, drei Tage lang fühlt sich Ritter krank, dann geht es ihm besser. Eine Woche vergeht, dann treten die Symptome wieder auf. Und sie werden stärker: Beine und Hände zittern, er leidet unter Schwindel und Übelkeit.

Thomas Ritter geht zum Hausarzt, lässt sich von Kopf bis Fuß durchchecken. Finden kann der Mediziner nichts. Zwischenzeitlich fühlt sich der 48-Jährige wieder besser.

Im Juni fängt die Angst richtig an. „Da hatte ich zum ersten Mal bewusst Angst. Davor, alleine zu sein“, erinnert sich Ritter. „Ich hatte Angst, wegen meiner Kreislaufprobleme umzukippen, bewusstlos zu werden, ohne Hilfe nicht mehr aufstehen zu können.“ Seine Familie reagiert mit Verständnis. Und Ritter organisiert seinen Alltag so, dass die Angst darin keinen Platz findet — vermeintlich. „Ob meine Frau zum Einkaufen oder die Kinder irgendwohin gefahren hat, ich bin einfach immer mitgefahren.“ Das Wichtigste: nicht alleine zu sein. „Es ist wie das Gefühl, durch einen dunklen Wald zu gehen mit der Angst, dass hinter jedem Baum jemand, Gefahr lauert.“ Für den Ingenieur Thomas Ritter, den Vernunftsmenschen, ist seine Angst „rational nicht zu erklären. Die Angst ist zuerst da, vor dem Verstand. Deshalb ist sie so schwer einzufangen.“

Die Diagnose Angststörung im August ist eine Erlösung für Ritter. Seit September macht er eine stationäre Therapie. Hier lernt er, sich seiner Angst zu stellen, sie zu durchleben — nicht zu vermeiden. „Bei Spaziergängen trainiere ich die Normalität: Ich setzte mich alleine irgendwo hin, das geht nicht gut, aber es wird besser. Körper und Gehirn realisieren: Es passiert ja nichts.“

Ziel der Therapie sei nicht die Angstfreiheit, betont Experte Andreas Horn, „sondern das Leben mit der Angst, so damit umzugehen, dass sie uns als Schutzmechanismus nutzt“. Der kolumbianische Klippenspringer Orlando Duque hat es so formuliert: „Die Angst hilft, uns zu konzentrieren. Ohne Angst wären wir tot.“ Bei Patienten, die an einer Angststörung leiden, verselbstständige sich die Angst, sagt Horn. Paniksymptome wie erhöhter Blutdruck und Puls führten zu Schwitzen, Schwindel, Übelkeit und Beklemmungsgefühlen, für viele Betroffene „wie aus heiterem Himmel“, erklärt der Experte. „Die Patienten knüpfen daran Gedanken wie: ,Ich bekomme einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall, ich werde verrückt.’“

Dabei seien die Symptome „rein körperlich nicht real gefährlich“, weiß Horn. „Eine Angstattacke ist ungefähr so wie ein anstrengendes Training im Fitnessstudio.“ Einmal erkannt, sei eine Angststörung gut therapier- und langfristig heilbar. Das Problem: „Hilfsangebote erreichen Betroffene häufig erst verspätet.“ Viele hätten eine Odyssee von Facharztterminen, noch mehr EKGs und Herzkatheteruntersuchungen hinter sich, bevor die Diagnose gestellt würde. Für Thomas Ritter ist sie der erste Schritt zurück in sein altes Leben — „wie auch immer das neue alte Leben aussieht . . .“