Psychiater Dr. Hipp zu Corona-Folgen „Die Gefahr ist immer noch real“

Interview | Kreis Mettmann  · Der Psychiater und Leiter des Sozial-psychiatrischen Dienstes in Hilden, Michael Hipp, spricht über die Auswirkungen der Corona-Pandemie und Krisen – und wie man der Angst die Macht nehmen kann.

 Im Schutz der Impfung sollten regelmäßige Begegnungen mit vertrauten Menschen organisiert werden“, rät Michael Hipp.

Im Schutz der Impfung sollten regelmäßige Begegnungen mit vertrauten Menschen organisiert werden“, rät Michael Hipp.

Foto: dpa/Rene Traut

„Frei leben – der Angst die Macht nehmen“ lautet das Thema beim bevorstehenden ACK-Forum in Langenfeld, das Sie mit einem Impulsreferat eröffnen werden. Seit dem Frühjahr 2020 macht besonders Corona vielen Menschen Angst – vielen aber auch nicht. Warum ist das so?

MIchael Hipp: Die Coronakrise als gesellschaftliche Bedrohung trifft auf eine höchst unterschiedliche individuelle Risikobewertung und -verarbeitung. Dies liegt – mit Verlaub – nicht zuletzt an der medialen Berichterstattung. Die neigt zur Themenfixierung und Dramatisierung. Aber auch so stellt Corona das eigene Sicherheitsgefühl auf eine harte Probe. Nur wer sich emotional nicht anstecken lässt und seinen Erregungszustand steuern kann, wird geduldig Informationen sammeln, logische Zusammenhänge erkennen und zu einer realistischen Gefahreneinschätzung kommen. Menschen mit einer ängstlichen Disposition dagegen können ihre Affekte oft nur schwer regulieren, weil sie belastende Informationen selektiv wahrnehmen und daraus Katastrophenfantasien entwickeln.

Aber das Virus entspringt doch keiner Fantasie ...

Hipp: Nein, die Gefahr ist real. Dennoch beobachte ich eine panikartige Verstärkung in der Wahrnehmung dieser Gefahr. Entlastende wissenschaftliche Erkenntnisse werden unterbewertet, Schutzmaßnahmen als unzureichend zurückgewiesen, jeder Interaktionspartner gilt als potentielle Infektionsquelle.

Mit welchen Folgen?

Hipp: Unter dem Eindruck von Ausweglosigkeit kann zum Beispiel die Arbeitsfähigkeit verloren gehen – Stichwort Depression. Umfassende soziale Isolierung verschärft das Problem. Einige Menschen flüchten sich in die sozialen Medien, in deren Echokammern sie mit „Gleichgesinnten“ ihre Ängste bestätigt finden. Andere verlieren sich in paranoiden Verschwörungstheorien, verschieben ihre Angst vor dem Tod auf „böse Mächte“ oder „Drahtzieher im Hintergrund“.

Die Verschwörungstheoretiker finden sich doch aber eher auf der Seite der sogenannten Corona-Leugner, also derjenigen, die den Kopf in den Sand stecken.

Hipp: Das ist die andere dysfunktionale Bewältigungsstrategie in der Krise. Die Betroffenen verleugnen die Gefahr, bezweifeln die Existenz des Corona-Virus oder relativieren das Risiko durch den Vergleich mit einer normalen Virusgrippe.

Mit dem Kopf im Sand lebt man vermutlich unbeschwerter, aber dafür möglicherweise auch nicht allzu lange. Warum ist ein gewisses Maß an Angst für uns Menschen von Vorteil?

Hipp: Weil Angst ein Indikator ist für das Vorhandensein und das Ausmaß einer Gefahrensituation. Angst schärft Aufmerksamkeit und Kritikfähigkeit. Sie mahnt zur Vorsicht, verhindert existentiell bedrohlichen Leichtsinn und mobilisiert bei Bedarf die zur Verfügung stehenden Kräfte.

Aber es heißt doch auch: Angst essen Seele auf ...

Hipp: Auch das stimmt. Auf das Maß kommt es an. Denn Lebensqualität und Überlebenschancen eines Menschen werden maßgeblich von seiner Fähigkeit bestimmt, Risiken unmittelbar und realitätsorientiert einzuschätzen. Diese Funktion übernimmt das autonome Nervensystem, das sich einer willentlichen oder bewussten Steuerung entzieht. Es ist im Normalfall in der Lage, sichere von unsicheren Situationen zu unterscheiden. Es kann unterhalb der Bewusstseinsschwelle den Organismus in einen Alarmzustand versetzen und unmittelbar Energie bereitstellen, um Flucht- oder Angriffsaktionen durchzuführen. Die Zielgenauigkeit der Angst wiederum hängt davon ab, wie verlässlich das autonome Nervensystem die Realität abbilden kann.

Warum ist genau dies bei den Menschen so unterschiedlich ausgeprägt?

Hipp: Dafür gibt es mehrere Gründe. Besonders bedeutsam – neben genetischen Dispositionen – sind die frühkindlichen Erfahrungen in der Ursprungsfamilie. Ein Kind, dessen Eltern emotional verfügbar waren und das daher in Stresssituationen beruhigt, getröstet und geschützt wurde, kann ausreichende Vertrauensressourcen aufbauen. Auf der Basis von Selbstvertrauen und Fremdvertrauen wird es entspannt und interessiert die Außenwelt erkunden. Es wird Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln und Risiken in Abhängigkeit von seinen Fähigkeiten einschätzen lernen. Solche „resilienten“ Kinder werden als Erwachsene auch mit großen Frustrationen, Entbehrungen und Bedrohungen umgehen, ohne psychische Erkrankungen zu entwickeln. Sie werden in enger Kooperation mit Familie, Freunden und auch staatlichen Institutionen die geeigneten Überlebensstrategien auswählen.

Und die anderen?

Hipp: Auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums finden sich Menschen, die aus unsicheren Bindungsverhältnissen mit emotionaler Vernachlässigung stammen oder gar Gewalt und sexuellen Missbrauch erfahren haben. Sie erleben die Welt als feindlich und bedrohlich. Sie vermuten Gefahren in Situationen, die sicher sind. Sie trauen sich die Bewältigung der vermeintlichen Gefahren selbst nicht zu, aber suchen auch keine Hilfe.

In den Tälern der Corona-Krise hatte man aber den Eindruck, dass auch viele Menschen mit „heiler“ Kindheitsgeschichte am Rad drehen.

Hipp: Weil die Corona-Pandemie zum Ausgangspunkt eines multidimensionalen Stressgeschehens wurde.