Langenfeld/Gelsenkirchen Missbrauchsopfer verklagt Psychiatrie

Langenfeld/Gelsenkirchen. · Günter Scheidler will vor Gericht für Opferentschädigung kämpfen. In der Langenfelder Psychiatrie wurden in den 50er und 60er Jahren die Insassen mit medizinischen Versuchen gequält.

Jahrelang sollen Kinder in der Langenfelder Psychiatrie ruhiggestellt und misshandelt worden sein.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Günter Scheidler ist Jahrgang 1957. Seine Kindheit hat er in Kinderheimen und der Langenfelder Psychiatrie verbracht. Scheidler hat Gewalt, Missbrauch und medizinische Versuche erlebt. Seine Erfahrungen hat er in dem E-Book „Weißer Hase“ öffentlich gemacht. „Wir haben inzwischen fast 25 000 Aufrufe“, sagt Scheidler. Diese große Resonanz hat ihn ermutigt, den nächsten Schritt zu gehen. Er klagt vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen. „Es muss Opferrenten für die Betroffenen geben“, sagt er und führt das Beispiel Österreich an, wo diese gezahlt würden.

Scheidler, der in Gelsenkirchen lebt, hatte zunächst einen Antrag auf Opferentschädigung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe gestellt. Dieser wurde abgelehnt, erläutert sein Anwalt Friedrich-Walter Ebener. Dagegen läuft nun die Klage beim Sozialgericht. „Sollte das Sozialgericht Gelsenkirchen der Klage stattgeben, wird der Verband Lippe den Landschaftsverband Rheinland (LVR), zu dem Langenfeld gehört, in die Pflicht nehmen“, ist er sicher. „Die Hürde ist allerdings hoch. Das Gutachten muss ergeben, dass der Schädigungsgrad bei Günter Scheidler 80 Prozent beträgt“, sagt Ebener. Weist es nur 50 Prozent nach, gibt es jedoch einen Anerkennungsstatus.

„Grundsätzlich sind Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) möglich. Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, erhalten auf Antrag nach Paragraf 10 a OEG Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung mindestens einen Grad der Behinderung von 50 Prozent haben, bedürftig sind und im Geltungsbereich des Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben“, erläutert Michael Sturmberg, Sprecher des LVR. Erfahrungsgemäß sei der Nachweis für die Betroffenen jedoch oft sehr schwierig – gerade, wenn der Angriff länger zurückliege. Sturmberg verweist auf die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“, die es seit dem Jahr 2017 gibt.

Auch andere Patienten
haben Ähnliches erlebt

Der LVR, der in der Veröffentlichung eine große Rolle spielt, hat die persönlichen Beschreibungen von Günter Scheidler als glaubwürdig eingestuft. Die ehemalige LVR-Sprecherin Katharina Landorff weiß: „Sie decken sich mit ähnlichen Beschreibungen von ehemaligen jungen Patienten psychiatrischer Einrichtungen, wie eine aktuelle Studie, die der LVR in Auftrag gegeben hat, belegt.“ Die Studie hat den Titel „Gestörte Kindheit“ und befasst sich mit der Zeit von 1945 bis 1975 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Scheidler, in Wuppertal geboren, die Mutter unverheiratet, musste ins Heim. Er galt als „debil“ – wie viele Kinder und Jugendliche der damaligen Zeit. „Psychopathisch, charakterlich abartig, schwachsinnig“ sind Diagnosen aus den 50er/60er Jahren, die eine Einweisung begründen sollten, so der LVR. 1965 wird Scheidler in die Kinderpsychiatrie Langenfeld gebracht. Zehn-Bett-Zimmer, Abteilung K 2. Die Betten: vergittert. Die Insassen: ruhiggestellt. Gibt es Schwierigkeiten, werden diese mit Schlägen und Spritzen beseitigt, so schreibt er in seinen Erinnerungen.

Wachstumsstörung durch medizinischen Versuch

1966 wird Günter Scheidler Opfer eines medizinischen Versuchs, bei dem er Spritzen in den Rücken bekommen hatte. Die Folge: Morbus Scheuermann, eine Wachstumsstörung der Wirbelsäule, die ihm noch heute zu schaffen macht und Grund für seine Klage ist. Auf seiner Homepage postet Scheidler Reaktionen auf seine Veröffentlichung und andere Fälle. Auch der Fall Klausa ist für ihn zentral. Udo Klausa war von 1945 bis 1975 Direktor des Landschaftsverbandes Rheinland. Zur Person und Tätigkeit Klausas wurde von der politischen Vertretung des LVR gerade ein weiteres Forschungsprojekt beschlossen. Eine Veröffentlichung wird 2020 erwartet. Aufgearbeit werden soll Klausas Verhältnis zum nationalsozialistischen Gedankengut und zu seiner NS-Vergangenheit.

Eine Vorgängerstudie sagt: „Udo Klausas Biografie zeigt deutlich auf, wie deutsche Verwaltungsexperten und Funktionseliten im 20. Jahrhundert über die Regimewechsel hinweg ihre Position halten und zu behaupten versuchten, und dabei jeweils systemspezifische Anpassungsleistungen erbrachten“, heißt es in der Zusammenfassung des LVR. Für den klagenden Scheidler ein deutlicher Hinweis darauf, dass medizinische Versuche an Menschen auch nach 1945 möglich waren.