Existenzangst auch in Mettmann Und plötzlich droht Hartz IV

Mettmann. · Annie Laflamme und Christian Binde sind die „Compagnia die Punto“. Doch für beide gibt es keine Aufträge mehr. Das bedroht ihre Existenz.

Flötistin Anni Laflamme und Hornist Christian Binde in ihrer Wohnung am Markt. Sie hoffen, ihr Haus nicht verkaufen zu müssen.

Foto: Janicki, Dietrich (jd-)

Im Sommer waren sie für die Salzburger Festspiele engagiert. Abgesagt. Beinahe alle Konzerte davor und danach: abgesagt. Derweil sitzen Annie Laflamme und Christian Binde vor ihrem Haus am Markt und rechnen. Wie lange schaffen sie es noch, auf eine Zukunft als Musiker zu hoffen? Ohne Absicherung, ohne doppelten Boden – und seit Beginn der Corona-Krise im freien Fall.

Nahezu 300 Tage im Jahr waren der Hornist und die Flötistin sonst auf Konzertbühnen unterwegs. Gemeinsam mit ihrer „Compagnia di Punto“, oder auch voneinander getrennt in anderen Engagements. Das Ludwig van Beethoven-Jahr 2020 zu Ehren des Bonner Meisters aus Wien: Es hatte hoffnungsvoll begonnen. Dann kam die Pandemie – und mit ihr kamen die Absagen.

Ausgebremst zu werden und plötzlich jeden Morgen zu Hause im eigenen Bett aufzuwachen? „Das hat sich anfangs gar nicht so schlecht angefühlt“, erzählt Annie Laflamme. Der eine kommt nach Hause, der andere geht: Oft hätten sie sich zuvor die Türklinke in die Hand gegeben. Wo fest angestellte Musiker einfach nur ihre Koffer packen müssen, gibt’s für Freiberufler auch jenseits von Tourneen viel zu tun. Auftritte müssen geplant und organisiert werden. Nichts davon lässt sich an wen auch immer delegieren. Ein Alltag jenseits aller Routine und dennoch, oder gerade deswegen: In jedem Ton klingt die Leidenschaft eines intensiv gelebten Lebens mit.

Verwertungsgesellschaft
gab einen Vorschuss

Zuhause sei sonst vieles liegen geblieben – an einem Ort, den Christian Binde und Annie Laflamme in den vergangenen Wochen nochmal gänzlich neu erfahren haben. Anfangs noch mit der staatlichen Zusage, dass ihnen mit der „Corona-Soforthilfe“ über eine Zeit hinweggeholfen werden solle, die einem Berufsverbot gleicht. Erfreulich auch, dass endlich die Honorare für Konzerte in Moskau und St. Petersburg flossen: Im Mai, vier Monate nachdem beide dort gespielt hatten. Die Verwertungsgesellschaft (GVL) wollte helfen und zahlte Vorschüsse, die nun bis zum Jahr 2028 mit den Einnahmen verrechnet werden sollen. Aber wie hoch werden die überhaupt sein?

Hinzu kommt, dass die verspätet gezahlten Honorare und die als Kredit gewährten GVL-Zuschüsse von den 9000 Euro abgezogen werden müssen, die als staatliche Corona-Soforthilfe für drei Monate gezahlt wurden. Und das auch nur für Betriebskosten – die Musiker nicht mehr haben, die zu Hause bleiben und darauf hoffen, dass sie endlich wieder auf Reisen gehen und irgendwo spielen können.

Schnell war für Christian Binde und Annie Laflamme klar: „Die staatliche Unterstützung mit all ihren Einschränkungen hilf uns nicht weiter.“ Beide beantragten vor drei Monaten notgedrungen Hartz IV, um finanziell überleben zu können. Ohne es wirklich zu wollen, denn eigentlich würden sie lieber heute als morgen wieder auf Konzertbühnen spielen. Gezahlt wurde auch noch nichts, stattdessen verlangt das Amt immer neue Unterlagen von den beiden Musikern.

Unklar ist auch, ob nicht doch noch eine Vermögensprüfung kommen wird. Vor vier Jahren hatten sie ihr Häuschen auf dem Markt gekauft und seither unzählige Stunden damit verbracht, das Kleinod liebevoll herzurichten. Der Sohn wohnt mit dort, und in der unteren Etage die mittlerweile 80 Jahre alte Mutter. Es war als Alterssicherung gedacht und selbstverständlich müssen weiterhin Kredite getilgt werden.

Bei den Banken läuft alles weiter wie gehabt – trotz Corona. Das Haus verkaufen und die Mutter muss ins Heim? Ein Alptraum für Christian Binde, aus dem er sich wünscht, möglichst bald wieder aufwachen zu können. Dass das so schnell nicht kommen wird, weiß er auch. „Wir rudern von morgens bis abends“, sagt er. Mitstreitern gehe es ähnlich – einer habe der Musik den Rücken gekehrt und arbeite bei einem Botendienst, um seine Familie über Wasser halten zu können.

Dass die „Compagnia di Punto“ dennoch vor Tagen auf dem Marktplatz stand, um den Mettmannern mit klassischer Musik aus der Krise zu helfen? Wunderbar – und von dem Gedanken getragen, dass sich nicht alles in Heller und Pfennig auszahlen muss. Dass längst nicht alle so denken, weiß Christian Binde auch. Da gebe es im Freundeskreis gutbetuchte Musiker, die Petitionen nicht unterschreiben wollen, weil sie sich im Biedermeier finanzieller Saturiertheit eingerichtet haben. Dass Annie Laflamme und Christian Binde für Tagessätze von 150 Euro auftreten und keine Reichtümer anhäufen konnten? Selbst schuld – so zumindest wird es offenbar von manchen Leuten gesehen.

Und wie soll es nun weitergehen inmitten der Unsicherheit der Corona-Krise? Eine Frage, auf die Christian Binde keine Antwort weiß. Er schaut in die Ferne, sucht nach Worten – und sagt nichts. Stattdessen machen er und Annie Laflamme einfach weiter. Dabei ist nichts mehr wirklich einfach im ­Musikerleben.