„Die Zeit hier in Ratingen ist vorbei“
Nach 26 Jahren als Pfarrer ist West geht Ludwin Seiwert im Sommer mit 74 Jahren in den Ruhestand.
Katholisch, evangelisch, muslimisch oder auch ganz ohne Glauben — in West kennt man Ludwin Seiwert. Wenn er auf einem seiner Spaziergänge durch den Stadtteil unterwegs ist, grüßen ihn viele Menschen. Der sympathische Mann mit den wachen Augen ist halt eine Institution im Stadtteil. Seit 26 Jahren ist er Pfarrer der katholischen Gemeinde Heilig Geist am Maximilian-Kolbe-Platz. Im Sommer ist nun Schluss, das Kirchenrecht sieht es so vor: „Einerseits würde ich gerne noch weiter machen. Aber auf der anderen Seite ist so eine Altersgrenze gar keine schlechte Sache. So würde so mancher wohl den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpassen“, sagt er.
Als er sich nach 1989 auf Anraten des Bischofs für die Pfarrstelle in West bewarb, gab es niemand anders, der dorthin wollte. Und auch Seiwert wollte nicht für immer bleiben: „Wie in meiner vorherigen Gemeinde hatte ich mir als Ziel gesetzt, zehn Jahre zu bleiben“, sagt er. Warum er dann doch nicht ging? Da muss der begeisterte Wanderer nicht lange nachdenken: „West ist aufgrund seiner Mischung ein faszinierender Stadtteil, der mich völlig von sich überzeugt hat.“ Außerdem kam zu dieser Zeit die Zusammenlegung mit Tiefenbroich: „Da wollte ich nicht gehen und mich aus der Verantwortung stehlen. Davon abgesehen ist West ein Stadtteil, der aufgrund seines jungen Alters nur wenig Traditionen hat, die Kirche und ihr Pfarrer ist da eine Ausnahme.“ Bereut habe er die Entscheidung aber nicht, dass er geblieben sei.
Dass Seiwert Pfarrer werden würde, stand vor ihn schon vor dem Abitur fest: „Ich war immer mit der Kirche verbunden und in der Jugendarbeit aktiv. Daher war für mich schnell klar, dass ich entweder Lehrer oder Pfarrer werden wolle. Ich mag den Umgang mit ganz verschiedenen Menschen einfach.“ Doch seine Eltern fanden die Idee mit dem Kirchendienst überhaupt nicht gut, versuchten, ihrem Sohn das auszureden. Und als das nicht half, kam die Erziehungskeule, wie sich Seiwert erinnert: „Damals wurde man erst mit 21 volljährig, ich war 19. Also bekam ich das Theologiestudium schlichtweg verboten.“ Was folgte, war stattdessen ein Studium der Germanistik und Geschichte, doch seine Überzeugung, in den Dienst der Kirche treten zu wollen, blieb. Das wurde irgendwann auch den Eltern klar: „Sie haben eingesehen, dass sie es nur aufschieben, nicht aber verhindern konnten.“ Und so konnte er sein Theologiestudium beginnen, das ihn nach Bonn und München führte. Besonders die Kinder- und Jugendarbeit hat dem passionierten Sänger angetan. Mit wie vielen jungen Menschen er auf Freizeitfahrten war, die Erstkommunion erteilt, sie gefirmt hat, das weiß er nicht: „So etwas habe ich nie gezählt.“ Aufgefallen ist ihm allerdings, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Hochzeiten deutlich zurückgegangen sind: „Im vergangenen Jahr waren es vielleicht 15 bis 20.“ Dass sein Dienst am Menschen nicht nur schöne Seiten hat, weiß Seiwert ganz genau — manchmal führt ihn das an seine eigenen Grenzen: Wie bei der Beerdigung eines jungen Mädchens, das sich umgebracht hat: „Ich kannte das Mädchen von Kindesbeinen an und habe mich oft gefragt, wieso man in solch einer Situation voller Verzweiflung nicht einfach zum Telefon greift. Sie hätte mich anrufen können, vielleicht hätte ich helfen können.“ Bei dieser Beerdigung habe er auch geweint. Auch wenn er nie ernsthafte Krisen in seinem Glauben an Gott hatte, weiß er genau: „Es gibt Situationen, für die gibt es keine Erklärung, die kann man nur versuchen auszuhalten.“
Wie es nach seinem Rentenantritt weiter geht, das weiß der beliebte Pfarrer noch nicht: „Keine Ahnung, wohin es mich verschlägt. Aber ich habe keine Angst vor dem, was da kommt. Nur Zuhause sitzen werde ich aber bestimmt nicht.“ In Ratingen wird man ihn danach wahrscheinlich nicht mehr sehen: „Es ist ein neuer Lebensabschnitt. Die Zeit hier ist dann vorbei.“