Die Vogelwelt ist aus dem Takt
Die Zeiten, in denen Wülfrather am frühen Morgen durch Vogelgezwitscher geweckt wurden, sind vorbei. Die Tiere singen auch in der Nacht. Warum?
Wülfrath/Tönisheide. Sie haben zu nächtlicher Stunde die Kneipentür hinter sich zugemacht, um mitten auf der Wilhelmstraße einem Vogelkonzert beizuwohnen? Oder Sie gehen durch die Ellenbeek und vom Dach trällert jemand Ihren Handyklingelton? Sollte Ihnen all das passieren — und das mitten in Wülfrath — so können wir Sie beruhigen. Nein, Sie leiden nicht an Halluzinationen, sondern eher unter den Kuriositäten der Moderne. Dazu gehört offenbar seit längerem, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Vogelwelt aus dem Takt gekommen ist.
Reinhard Vohwinkel, Ornithologe
Wer beim Balzen den Schnabel vorn haben will, sollte erfinderisch sein. „Ein Rotkehlchen muss in der Innenstadt schon ziemlich laut singen, um den Straßenlärm zu übertönen“, weiß Reinhard Vohwinkel. Der Ornithologe aus Tönisheide ist oft in Wülfrath unterwegs, um den Spuren der fleißigen Sänger zu folgen. „Allein hier in der Gegend konnte ich 240 Vogelarten nachweisen“, berichtet er von seinen Streifzügen. Dabei weiß der Vogelexperte auch, wie rabiat es zuweilen in der Balzzeit zugeht und dass man Vogelgesang nur solange unschuldig und harmlos finden kann, bis man genau weiß, welche tierischen Dramen sich dahinter verbergen können. Da wird geprotzt, getäuscht und getrickst — und all das nur, um die Damenwelt zu beeindrucken.
Dabei dürften die nächtlichen Vogelkonzerte in Wülfrath noch beschaulich daherkommen. Denn mit der Straßenbeleuchtung und dem nächtlichen Verkehr in Großstädten kann hier keiner mithalten. Zumindest in der Vogelwelt dürfte sich herumgesprochen haben, dass ein Rückzug in die Provinz nicht das Schlechteste ist. Hat man sein Quartier nicht gerade neben den Hauptverkehrsstraßen aufgeschlagen, bleibt Vogel verschont von Krach und Dauerbeleuchtung. Wenigstens muss nicht rund um die Uhr gesungen werden. Früher aufstehen dürften die gefiederten Herrschaften schon, denn neben dem stetig zunehmenden Lärmpegel sind es vor allem die Straßenlaternen und rundum beleuchtete Häuserkulissen, die bei der Vogelwelt für Verwirrung sorgen.
Lichtverschmutzung heißt das Phänomen, von dem Landschaftspfleger Detlef Regulski sagt: „Viele Tiere kommen darin um oder sind gezwungen, ihr Verhalten anzupassen. So trällern Rotkehlchen zuweilen die ganze Nacht — umringt von nicht enden wollender Beleuchtung. Bei so viel Stress steigt die Aggressivität unter den Artgenossen und irgendwann reicht die Kraft nicht mehr, um die eigene Brut zu versorgen.“ Burnout bei Vögeln? So abwegig scheint es nicht zu sein. Allerdings braucht in der Wülfrather Vogelwelt längst nicht jeder einen Grund, um der Brut den Rücken zu kehren. Beim Uhu aus dem Wülfrather Bruch hat die Familie auch schon mal das Nachsehen, wenn das flotte Gefieder in der Nachbarschaft lockt. Das zumindest berichtet der Landschaftspfleger, der dem König der Nacht in den Steinbrüchen nachstellt. Ach ja, da war ja noch die Sache mit dem Handyklingelton. Vor allem der Eichelhäher scheint dabei ein besonderes Talent zu haben. Auch er wurde schon in der Wülfrather Innenstadt gesichtet.