Kempen/Kreis Viersen "Ich brenne für das Thema Gesundheit"

Kempen/Kreis Viersen · Die Linken-Politikern Britta Pietsch will in den Bundestag einziehen und dort mit gesundheitspolitischen Themen punkten.

Britta Pietsch bei ihrem Besuch in der WZ-Redaktion.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Nicht nur Britta Pietsch von den Linken möchte im neuen Bundestag mitreden. Im Kreis Viersen gibt es neben ihr weitere Kandidaten für das Mandat: Martin Plum (CDU), Udo Schiefner (SPD), Rene Heesen (Grüne), Eric Scheuerle (FDP), Georg Alsdorf (Freie Wähler) und Kay Gottschalk (AfD). Sie alle werden oder wurden bereits von der WZ zu ihren Ambitionen und Plänen befragt.

Was hat Sie dazu veranlasst, in die Politik einzusteigen?

Britta Pietsch: Die Einführung der Agenda 2010 durch die rot-grüne Bundesregierung. Die aktive Schwächung des Sozialstaates und die Einführung der Fallpauschalen im Krankenhaus. Ich habe im Krankenhaus gearbeitet, habe mitbekommen, welche Auswirkungen das hat und habe mich gefragt: Was kann ich machen? Und ich habe Menschen gefunden, die ähnlich dachten wie ich. Mit denen bin ich in Kontakt getreten, habe die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit WASG gegründet, die später eine Partei wurde. Das ist eine der Quellparteien der Linken. 2007 war die offizielle Vereinigung. Dann war ich im Bundesvorstand unserer Partei und seitdem immer auf Landes-, Kreis und auf Bundesebene aktiv.

Die Themen Gesundheit und Pflege sind aktuell präsenter denn je...

Pietsch: Und das ist gut. Durch die Corona-Pandemie wurde der Pflegenotstand erst einmal greifbar. Ich finde es richtig gut, dass die Pflegekräfte erstmals nach vorne gegangen sind und gesagt haben: Wir können nicht mehr. Nun gibt es eine breite Solidarisierung innerhalb der Bevölkerung. Und egal, wer die nächste Regierung stellt, er wird an dem Thema nicht mehr vorbeikommen. Das ganze System muss neu aufgestellt werden, weil das System der Fallpauschalen erwiesenermaßen nicht taugt. Und es ist ja nicht naturgegeben. Das System wurde von Menschen in der Politik gemacht, dann können Menschen es auch verändern und richten.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten gesellschaftspolitischen Baustellen?

Pietsch: Drei große Themen kommen auf uns zu. Wir sind in einem Transformationsprozess, wo wir sagen: So wie es vorher gelaufen ist, geht es nicht mehr weiter. Die Natur ist bedroht. Wir haben in Sachen Klimawandel gerade einen Eindruck erhalten, was da auf uns zukommt.

Das Zweite sind unsere Gesundheitssysteme. Sie haben es nicht geschafft, der Pandemie zu begegnen. Erinnern wir uns: Vergangenes Jahr im März und April haben Mediziner und Ärzte ohne Schutzausrüstung an Betten gestanden – wie ein Feuerwehrmann, der ohne Schutz in eine brennende Kirche geht. Und im Krankenhaus müssen sich Pflegekräfte 30 Sekunden lang die Hände desinfizieren. Eine Krankenschwester, die von Zimmer zu Zimmer rennt und sich jedes Mal die Hände desinfizieren muss - da müssten Sie malstoppen, wie viel Zeit sie dafür braucht und wie viel Zeit sie für den Patienten am Ende hat. Da braucht es eine entsprechende personelle Ausstattung.

Und die Gesundheitsämter konnten nicht arbeiten, weil sie weder Personal noch Ausstattung hatten. Die Kommunen haben kein Geld mehr, um sich adäquat aufzustellen und für uns da zu sein, weil sie systematisch kaputtgespart werden.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren?

Pietsch: Pflegekräfte sind in einem ethischem Dilemma: Sie wissen, wie es richtig geht, aber die Rahmenbedingungen lassen nicht zu, dass sie richtig arbeiten können. Ob Alten- oder Krankenpflege – die Kolleginnen und Kollegen gehen auf dem Zahnfleisch. Sie sind fertig. Mehr Personal ist das A und O. Die Pflegewissenschaft sagt: Wir brauchen 100 000 Pflegekräfte mehr.

Woher sollen die kommen? Es wird immer schwerer, Alten- und Krankenpfleger für den Beruf zu begeistern. Geld allein wird da nicht reichen.

Pietsch: Rund 350 000 examinierte Krankenpfleger haben ihren Job aufgegeben. Über ein Drittel sagt aber: Wenn die Arbeitsbedingungen stimmen würden, käme ich wieder zurück.

Sie kommen selbst als Krankenschwester aus dem Gesundheitsbereich, er wird sicher einer Ihrer politischen Schwerpunkte in Berlin.

Pietsch: Ich bin gesundheitspolitische Sprecherin meiner Partei in NRW, stellvertretende Landesvorsitzende. Ich mache seit zehn Jahren Gesundheitspolitik und bin froh, dass die Probleme jetzt auf den Tisch kommen und nicht mehr weggeschummelt werden können. Und ja, ich brenne für das Thema und geht davon aus, dass ich im Bundestag diesen Schwerpunkt bearbeiten werde. Ich denke, dass Menschen wie ich, die aus der Praxis kommen, wissen welche Auswirkungen gesundheitpolitische Maßnahmen direkt vorn Ort haben. Wir brauchen Betriebskindergärten, Planungssicherheit in der Dienstplangestaltung, und die Arbeitsdichte muss entzerrt werden.

Das geht in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf...

Pietsch: Es ist alles eine Frage des Wollens. Mit mehr Mitarbeitern ist vieles möglich. Darum liegt da das Hauptaugenmerk: Wir brauchen mehr Personal. Und wir brauchen eine bessere Ausbildung.

Die Bundesregierung hat doch ein generalisiertes Ausbildungskonzept aufgelegt.

Pietsch: Das ist die Ausbildung, wo die frühere Altenpflege, Kranken- und Kinderkrankenpflege zusammengefasst wurden. Für mich persönlich ist das kein Modell. Man kann ja auch nicht sagen: Elektriker, Gas-Wasser-Installateur und Schreiner, das sind alles Handwerker, das ist alles das Gleiche. In der Altenpflege steht die Betreuung im Mittelpunkt, da geht es ja weniger darum, Menschen gesund zu pflegen. Ich befürchte, dass durch die generalisierte Ausbildung die Qualität und die Vergütung weter heruntergeschaubt werden.

Was muss sich an den Strukturen im Gesundheitswesen generell ändern?

Pietsch: Generell gilt, das Gesundheitssystem der Marktlogigk zu entreißen, Gesundheitswesen ist dazu da, um Leid zu lindern, Krankheit zu heilen, zu pflegen und Krankheit vorzubeugen. Nicht zum Gewinne zu machen. Wir haben aktuell die politische Marschroute: Ambulant vor stationär. Wenn Sie mit ein Beinbruch ins Krankenhaus kommen, bekommt das Krankenhaus eine Fallpauschale. Sobald Sie geradeaus gucken können, werden Sie also entlassen – oft auch zum Wochenende. Die Wundheilung soll zu Hause stattfinden, was dann häufig schlecht vorbereitet ist. Und ein paar Tage später landet der Patient wieder im Krankenhaus, weil sich die Wunde entzündet hat. Das ist das System.

Was wollen Sie gesundheitspolitisch für den Kreis Viersen bewegen?

Pietsch: Neben der Errichtung einer Rehaklinik für Long-Covid-Patienten, was nicht nur Arbeits- und Ausbildungsplätze in den unterschiedlichen Fachgebieten schafft, sondern auch die Innenstädte im Kreis beleben, brauchen für Strukturen, die die ambulante und stationäre Versorgung sicherstellen. Anstatt weiter Krankenhäuser im Kreis zu schließen, die medizinische Versorgung durch niedergelasene Ärzte auszudünnen, muss man auf die flächendeckende Versorgung orientieren. Und warum denkt man nicht mal daran, die Kurzzeitpflege anders aufzustellen, so dass sie auch funktioniert ?

Was sind die wichtigsten politischen Baustellen unserer Zeit?

Pietsch: Der Klimawandel, der wahnsinnige Auswirkungen hat, die Digitalisierung, die ich als Revolution begreife. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Corona nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird. Wir brauchen Strukturen, die krisenfest sind – und all das kostet richtig viel Geld. Hier muss man kleckern statt klotzen. Sonst sehe ich schwarz.

Im Wahlprogramm der Linken stehen Forderungen wie kostenloses Fahren mit Bus und Bahn, Gesundheitsversicherung für alle Menschen, 1200 Euro pro Monat für Langzeitarbeitslose, kostenlose Kindergartenplätze, kostenloses Essensgeld, solidarische Mindestrente von 1200 Euro und Mindestlohn von 1300 Euro. Woher wollen Sie das Geld nehmen?

Pietsch: Indem wir gerecht besteuern. Superreiche und Konzerne dürfen sich nicht länger wegducken. Die Schlupflöcher muss man dicht machen. Durch unser Steuerkonzept werden mittlere und kleine Einkommen entlastet. Und die, die sich bisher einen schlanken Fuß gemacht haben, werden mit in die Verantwirtung genommen.

Wenn man das Land sozial und ökologisch umbauen will, muss man  auch mutig sein und neue Wege gehen, anstatt das, was nicht funktioniert, einfach weiter laufen zu lassen,  weil einem nichts Besseres einfällt oder sich von der Konzern–Lobby unter Druck setzen lässt. Man muss sich immer fragen, was man will. Wenn man Politik für die Menschen und die Umwelt machen, dann kommt das allen zu Gute. Da muss man sich dann auch mal mit den Mächtigen anlegen.

Und bei der Gesundheit?

Pietsch: Da wollen wir, dass alle einzahlen - auch Beamte, Abgeordnete, Superreiche. Nehmen wir mal als Beispiel die Pflegeversicherung. Wenn alle einzahlen, haben wir 16 Milliarden Einnahmen mehr – für Personal und Strukturen. Wir wollen auch eine solidarische Krankenversicherung. Dadurch sinkt die Belastung für den Einzelnen. Die Kosten der Corona-Krise wollen wir durch eine Vermögensabgabe abfedern. Und bei der Vermögenssteuer haben wir den Kohl’schen Satz genommen, das ist also auch nicht grade sehr sozialistisch, um vermögensgerecht zu besteuern. Zum Einkommen: Haben Sie mal ausgerechnet, was eine Pflegekraft an Rente zu erwarten hat ? Da kommen Sie in die Altersarmut mit. Drei Schichten laochen und am Ende noch keine 900 Euro Rente bekommen. Das halte ich für fatal.

Wer soll denn noch drei Schichten arbeiten, wenn er das Geld auch so bekommt?

Pietsch: Eine Gegenfrage: Arbeiten Sie für den Beruf oder für das Geld? Ich glaube nicht, dass Menschen keine Lust auf Arbeit haben. Aber die Menschen in Transferleistungen, die in Hartz IV sind, die brauchen eine Teilhabe am Leben. Und Wohnraum. Im Westkreis sind 1200 Sozialwohnungen aus der Bindung herausgefallen – wo sollen die Leute hin? Also brauchen wir auch sozialen Wohnungsbau.

Aber neuer sozialer Wohnungsbau führt auch wieder zu Versiegelungen von Flächen – Stichwort Klima. Ist das nicht ein politisches Dilemma?

Pietsch: Ich glaube nicht, dass es ein politisches Dilemma ist, wenn ich dafür sorge, dass Menschen ein Dach über den Kopf haben. Und was macht mehr Versiegelung: die Villa auf 250 Quadratmetern Grundfläche, wo ein Mann und eine Frau drin wohnen – oder sozialer Wohnungsbau, ökologisch ausgerichtet mit weniger Flächenversiegelung und ohne Schottergarten, wo acht Familien drin wohnen?

Wofür werden Ihrer Meinung nach in Deutschland zu viele öffentliche Gelder ausgegeben?

Pietsch: Viel spannender ist für mich, wo zurzeit die Augen zugedrückt werden: CumEx, Wirecard, bei Absprachen von Kartellen. Bei jedem Großprojekt müsste man die Frage stellen, welchen Nutzen und welche Auswirkungen hat das?

Wie ist Ihre Haltung zu „gendern“? Gerade die Linke hat sich dieses Themas stark angenommen.

Pietsch: Ich selbst muss mich aktiv korrigieren in der Sprache. Ich mache das nicht automatisch. Viele junge Leute haben das flüssig drauf. Mir persönlich ist wichtiger, was jemand sagt, als wie er es sagt. Aber Sprache entwickelt sich. In den 80er Jahren hieß es erstmals Lehrer und Lehrerinnen. Jetzt heißt es Lehrer*Innen. Weil es etwas Neues ist, reagieren manche Leute zurückhaltend.

Werden Sie Angela Merkel als Kanzlerin vermissen?

Pietsch: Politisch nein, aber ich mochte ihre protestantische Art, ihre Bescheidenheit.

Wie sehen Sie Ihre Chancen auf ein Bundestagsmandat?

Pietsch: Ich stehe auf Listenplatz 9, ich gehe fest davon aus, dass ich nach Berlin gehe. Aber als Direktkandidatin wahrscheinlich nicht. Die Linke wird in Viersen ein gutes Ergebnis einfahren. Dort kennt man uns gut. Wir müssen aber mehr in die Fläche.

Für wie realistisch halten Sie eine Koalition mit Beteiligung der Linken nach dem 26. September?

Pietsch: Wenn man über Koalitionen spricht, guckt man: Was wollen die anderen, was wollen wir und sucht nach Schnittmengen. Die gibt es durchaus mit SPD und Grünen. Wenn es geht, machen wir´s. Demokratische Parteien müssen in der Lage sein, miteinander zu sprechen. Und man muss es austarieren, sonst kommt die CDU wieder dran.