Fakten & Hintergrund Behinderung hindert nicht am Praktikum

Kempen. · Jocy Rund (13) arbeitet trotz Sehbehinderung, Skoliose und Epilepsie im „Rudelglück“.

Im Geschäft von Nicole Schrörs (l.) absolviert Jocy Rund ein Praktikum. Lange mussten sie und ihre Mutter Corinna (v. l.) suchen.

Foto: Wolfgang Kaiser

Der Blick von Jocy ist konzentriert auf das Regal gerichtet. Mit dem Bleistift in der Hand geht sie vorbei an den Hundefutterdosen und zählt lautlos mit. Kaum ist eine Reihe fertig, überträgt die 13-Jährige die Zahl auf das Blatt, das sie in der anderen Hand hält. Es gilt, die frisch eingeräumte Ware zu zählen und mit dem Lieferzettel zu vergleichen. „Fertig“ kommentiert die junge Kempenerin einige Minuten später ihre Arbeit. Der Wareneingang stimmt. Bei Nicole Schrörs, die an der Ladentheke steht und die Einkäufe einer Kundin in die Kasse eingibt, stehen schon die nächsten Kartons. „Darum können wir uns gleich zusammen kümmern“, sagt die Inhaberin vom Kempener Geschäft „Rudelglück – Schönes für Hund und Mensch“ ihrer Praktikantin. Für zwei Wochen absolviert Jocy Rund im „Rudelglück“ ein Praktikum.

Es ist kein gewöhnliches Praktikum, das die Achtklässlerin im Laden an der Ellenstraße in der Kempener Altstadt macht. Sie ist Schülerin einer Duisburger Förderschule für sehbehinderte Menschen. Die kurze Pause nutzt Sammy direkt aus. Der einjährige Rüde läuft zu Jocy und holt sich Streicheleinheiten ab. „Wenn ich daran denke, wie negativ die Suche nach einem Praktikumsplatz zunächst behaftet war, und welche Sorgen Jocy hatte, kann ich es kaum glauben, wie gut alles läuft. Unsere Tochter kommt jeden Tag nach Hause und erzählt wie ein Wasserfall, was sie alles gemacht hat. Sie fühlt sich rundum wohl“, sagt Jocys Mutter Corinna Rund.

Die Freude über den Praktikumsplatz für die Tochter ist der Mutter anzusehen, denn allein die Suche gestaltete sich sehr schwierig und löste jede Menge Frust bei dem Mädchen und ihrer Familie aus. Jocy ist gleich durch mehrere Behinderungen eingeschränkt. Dazu gehört, dass sie aufgrund einer Sehbehinderung nur über ein eingeschränktes Sichtfeld verfügt. Außerdem muss sie wegen ihrer Skoliose ein Korsett tragen und leidet unter Epilepsie.

Die weiterführenden Schulen waren auf Jocy nicht eingestellt

Dass Teilhabe und Inklusion für behinderte Menschen nicht einfach ist, stellte Familie Rund schon nach der Grundschule fest. Was in der Kempener Regenbogenschule wunderbar funktioniert hatte, nämlich der Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung, endete mit dem Wechsel auf eine weiterführende Schule. Weder die beiden Gymnasien noch die Gesamtschule in Kempen sahen sich in der Lage, Jocy aufzunehmen. So wechselte sie nach der Grundschule auf eine Förderschule für sehbehinderte Kinder in Duisburg.

Wie viele Schulen hat auch diese Bildungseinrichtung ein Schülerpraktikum für ihre Achtklässler vorgesehen und es auf den Januar 2020 terminiert. Schon nach den Sommerferien im vergangenen Jahr ging Familie Rund auf die Suche nach einem geeigneten Praktikumsplatz. „Ich wollte gerne etwas mit Tieren machen“, erzählt Jocy, die daheim zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Hund Mick, Kater Rusty und die Kaninchen Carli und Carlos betreut. Zudem ist sie eine begeisterte Reiterin.

Doch die Suche nach einer Stelle gestaltete sich als eine wahre Odyssee. „Ich habe keinen Betrieb gefunden, der einem jungen Menschen mit Handicap einen Praktikumsplatz geben wollte. Es gab schon bei ersten telefonischen Anfragen nur Absagen. Man wollte Jocy noch nicht einmal kennenlernen“, berichtet Corinna Rund. Sie sprach verschiedene Betriebe an, bei denen es sich teilweise um reine Büroarbeiten gehandelt hätte. Wie viele Absagen sie erhalten hat, hat Rund nicht gezählt.

Behinderte stellten auch einige der Produkte in Schrörs Geschäft

Erst als sie in dem gerade neu eröffneten Geschäft „Rudelglück“ von Nicole Schrörs vorsprach, hatte sie Glück. „Als mich Corinna Rund anrief, mir ihre Tochter schilderte und nach einem Praktikumsplatz fragte, musste ich überhaupt nicht überlegen. Für mich ist Inklusion etwas Selbstverständliches, zumal wir auch Produkte wie Hundespielzeug und Leinen verkaufen, die in Behindertenwerkstätten hergestellt werden. Jeder Mensch hat ein Stück weit auch eine soziale Verantwortung“, sagt Nicole Schrörs.

Mit Blick auf die Epilepsie-Erkrankung erhielt die Geschäftsfrau von den Eltern von Jocy eine kurze Unterweisung, für den Fall, dass die 13-Jährige trotz der guten medikamentösen Einstellung einen Aussetzer hätte. Eine sehr aufgeregte Jocy trat dann ihren ersten Praktikumstag an. Doch die Aufregung legte sich schnell, als die 13-Jährige die Herzlichkeit spürte, die ihr von Anfang an entgegengebracht wurde. „Es macht so viel Spaß, hier mitzuarbeiten“, sagt sie. Ob Wareneingangskontrolle, Waren einräumen, etikettieren oder Kundenkontakt – Jocy ist überall im Einsatz.

„Jocy macht ihre Sache wirklich gut. Sie ist uns eine wirkliche Hilfe. Man muss sich ja um jeden Praktikanten kümmern und ihm Dinge erklären, egal ob er ein Handicap hat oder nicht“, sagt Schrörs. Die junge Praktikantin hört jeden Morgen zur Begrüßung den Satz „Jocy, gut, dass du da bist. Wir haben viel Arbeit“. Für die 13-Jährige ist das ein optimaler Start in den Tag, denn das Gefühl, zum Team zu gehören und sinnvolle Arbeit zu leisten, die anerkannt wird, tut ihr gut. Beim „Rudelglück“ wird Inklusion gelebt. Am Freitag endet das zweiwöchige Praktikum für Jocy.