Kultur „Libera Voce“ singt Schuberts „Winterreise“
Kempen. · Am 2. Februar interpretiert der Chor den Liederzyklus beim Konzert in der Paterskirche.
Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ gehört gewiss zum Ergreifendsten, was in der Gattung Kunstlied komponiert wurde. Dabei geht es nicht darum, eine Grenze zwischen Volks- und Kunstliedern zu ziehen – Volkslieder sind oft genug Kunstlieder, die populär wurden und deren Komponist zwar bekannt, aber nicht so recht gegenwärtig ist. Dass die meisten Lieder der „Winterreise“ nicht zu Volksliedern wurden, zeigt, dass sie dafür zu ernst, zu niederschmetternd, zu deprimierend sind. Zur Volkstümlichkeit hat es lediglich „Am Brunnen vor dem Tore“ gebracht. Melodie und Text wirken friedlich, sogar idyllisch. Aber Vorsicht: Im Text von Wilhelm Müller heißt es nicht „du findest“, sondern „du fändest Ruhe dort“. Der Konjunktiv bedeutet im Klartext: Die Ruhe, die du suchst, wirst du nicht finden.
Worin ist aber dann die Beliebtheit des Liederzyklus begründet, wenn ihm so viel Schwermut und Hoffnungslosigkeit zugrunde liegt? Viel spricht dafür, dass die Schatten des menschlichen Lebens, künstlerisch anspruchsvoll aufgegriffen, tiefe Schichten unserer Empfindung ansprechen. Schubert lebte von 1797 bis 1828; die Komposition entstand 1827, im Jahr vor seinem Tod. In Kempen ist dieses Werk als Sonderkonzert mit Andreas Elias Post (Bariton) und Oleksandr Loiko (Klavier) am Sonntag, 2. Februar, um 18 Uhr in der Paterskirche zu hören – und zwar in einer Bearbeitung von Gregor Meyer, die zusätzlich noch einen Chor mit einbezieht. Die Chorpartie übernimmt das Kempener Vokalensemble „Libera Voce“, geleitet von David Nethen.
Klavier stellt dem Gesang einen eigenen Charakter entgegen
Zur Konzeption des Chores gehört es, so Nethen, sich auf die Suche nach ungewohnten Werken zu begeben und dabei „besondere, mitunter klanglich und musikalisch anspruchsvolle Werke ausfindig zu machen“. Vor ungefähr zwei Jahren stieß Nethen auf Gregor Meyers Fassung der Winterreise. Nethen, der seinen beruflichen Werdegang mit einem Gesangsstudium und Engagements in Koblenz und Essen begann, war von Schuberts Liedern schon immer fasziniert. Dem Musikpädagogen des Thomaeums fiel auf, dass es in Schuberts Liedern „zwei voneinander unabhängig agierende Protagonisten gibt“. Das Klavier begleitet nicht nur. Es stellt dem Sänger „einen eigens hineinkomponierten Charakter“ entgegen. Die Qualität einer Bearbeitung ist für Nethen deshalb daran festzumachen, ob sie genau diesen Aspekt berücksichtigt. Konkret: „ob und inwiefern der Chor eine dieser Rollen in der Fassung von Meyer übernimmt oder nicht“.
Nethen: „Im Laufe meiner Auseinandersetzung mit dem Werk war mir sofort ins Auge gefallen, dass der Chor nicht nur eingearbeitet wurde. Der Chor stellt, wie auch im antiken Theater, als weiterer Protagonist die Menschheit, die Gesellschaft dar.“ Das bedeutet für die Musik, dass nicht einfach ein Wechsel stattfindet, so nach dem Motto „der Chor singt dieses Lied und der Bariton das andere“. Vielmehr wird von Gregor Meyer „in allen Liedern der Chor musikalisch und dramaturgisch hineingewebt. Manche Lieder gehen ineinander über, manche Lieder werden gar komplett a cappella gesungen.“
Stilistisch bleibt das ganze allerdings im Rahmen. Nethen versichert: „Es gibt keine Veränderungen im Sinne eines gewollt avantgardistischen, zeitgenössischen Chaos’. Die bekannten Lieder sind genauso zu erkennen, als ob es sich um die Ursprungsversion handeln würde.“
Und was denken die Chormitglieder über die Bearbeitung? Ihr Leiter darf erfreut resümieren: „Ursprünglich waren aus dem Chor kritische Stimmen zu hören – diese sind sämtlich verstummt.“ -tr