Analyse zur Kommunalwahl Über die Balance der Macht

Kempen. · Am Sonntag dürfen wir endlich unser Kreuzchen machen, beziehungsweise es haben schon viele ihre Briefwahl-Kreuzchen gemacht. Jedenfalls hat der Souverän jetzt das Wort. Die Bürgerinnen und Bürger verleihen in den Städten und Gemeinden wieder einmal Macht auf Zeit.

Der Stadtrat tagt in der Regel im Rathaus am Buttermarkt. Wegen der Corona-Einschränkungen weicht die Stadt aber derzeit auf andere Säle aus – zum Beispiel ins St. Huberter Forum.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Macht an die direkt gewählten Bürgermeister und Landräte, Macht an die Vertreter in Stadt- und Gemeinderäten sowie Kreistagen. Doch wer hat eigentlich wie viel Macht? Und wer trägt im kommunalpolitischen System eigentlich wie viel Verantwortung? Am Beispiel der Stadt Kempen mit Bürgermeister und Stadtrat wollen wir in der heutigen Ausgabe mal erklären, wie das System funktioniert. Und zwar mit Hilfe dieses Textes und einer großen Grafik auf Seite 26.

Beginnen wir mit dem Bürgermeister. Dieser wird in NRW seit 1999 direkt von den Bürgerinnen und Bürgern für den Zeitraum von fünf Jahren gewählt. Davor gab es die sogenannte Doppelspitze – bestehend aus einem hauptamtlichen Stadtdirektor und einem ehrenamtlichen Bürgermeister. Der Stadtdirektor wurde, wie die Dezernenten heute, für acht Jahre vom Rat gewählt. Auch der ehrenamtliche Bürgermeister wurde vom Rat gewählt. Dieser hatte aber im Gegensatz zum Stadtdirektor (Verwaltungschef) nur repräsentative Aufgaben. Kempens legendäre Doppelspitze bestand über Jahre aus Stadtdirektor Karl Hensel (CDU) und Bürgermeister Karl-Heinz Hermans (CDU).

1999 wurde Hensel dann zum ersten hauptamtlichen Bürgermeister gewählt mit der Kernaufgabe Verwaltungschef, aber auch mit repräsentativen Aufgaben. Unterstützt wird der Bürgermeister in Kempen bei der Repräsentation von drei ehrenamtlichen Stellvertretern, die Ratsmitglieder sind und vom Rat gewählt werden. Derzeit heißen die Vertreter von Volker Rübo (CDU) Otto Birkmann und Hans-Peter van der Bloemen (beide CDU) sowie Irene Steeger (SPD). Birkmann ist auch Vertreter von Rübo als Vorsitzender des Rates und leitet die Sitzungen, falls der Bürgermeister verhindert ist.

Der Kempener Stadtrat
hat derzeit 44 Mitglieder

Nun zum Stadrat. Dieser wird wie der Bürgermeister für fünf Jahre gewählt. Zwischenzeitlich wurde die Legislaturperiode mal auf sechs Jahre ausgeweitet. Dies wurde inzwischen wieder zurückgenommen. Der Stadtrat besteht zum einen aus den Siegern der Wahlkreise. Davon gibt es in Kempen 20 – 2014 holte die CDU alle Mandate direkt. Neben den Direktkandidaten rücken dann noch 20 Vertreter von den Reservelisten in den Rat. Die Verteilung dieser Mandate läuft über ein komplexes Zählverfahren, das sogenannte Divisorverfahren. So wird gewährleistet, dass die Stimmen der Kandidaten bzw. der Parteien, die nicht direkt gewählt worden sind, nicht unter den Tisch fallen. Das Verfahren stellt sicher, dass das Parlament den Wählerwillen über den Anteil der Mandate repräsentiert. Je nach Ergebnis kann es auch zu Überhangmandaten kommen. Das heißt, dass der Rat dann größer wird. Der aktuelle Stadtrat besteht aus 44 stimmberechtigten Mitgliedern. Zusätzlich hat der Bürgermeister als Vorsitzender des Gremiums eine Stimme.

Eine Sperrklausel gibt es
auf kommunaler Ebene nicht

Eine Sperrklausel (zum Beispiel fünf Prozent) gibt es auf kommunaler Ebene nicht. Die Zahl der benötigten Stimmen für einen Sitz im Rat richtet sich nach der Zahl der Wahlberechtigten und nach der Zahl der abgegeben Stimmen. Letztlich gilt für Kempen eine Art Faustregel, die aber wirklich nur eine Faustregel ist. Im Bereich von 250 bis 300 Stimmen sollte eine Partei oder eine Wählergemeinschaft in Kempen bekommen, um einen Sitz sicher zu haben. Beispiele aus 2014: Die Freien Wähler Kempen (FWK) holten 849 Stimmen (5,24 Prozent) und bekamen zwei Sitze. Ebenso die Linken, die aber nur 561 Stimmen (3,46 Prozent) holten.

Nun haben wir also einen Bürgermeister und einen Stadtrat. Doch wer hat denn jetzt was und wie viel zu sagen? Da der Bürgermeister nicht vom Rat, sondern direkt vom Volk gewählt wird, agiert er laut Kommunalverfassung überparteilich und unabhängig. Und in erster Linie sind die Führung der Stadtverwaltung sowie die Aufgaben in anderen Gesellschaften der Stadt (z.B. Stadtwerke) die Kernaufgaben des Bürgermeisters. Er steht über den drei Dezerzenten, der Erste Beigeordnete ist im operativen Geschäft sein Stellvertreter. Insofern ist der hauptamtliche Bürgermeister im Kern so etwas wie der Stadtdirektor von vor 1999.

Das neue Wahlsystem hat aber dazu geführt, dass nicht nur klassische Verwaltungsvertreter Chef der Verwaltung, also Bürgermeister, werden. So zum Beispiel Manfred Lommetz in Grefrath. Der parteilose Rechtsanwalt wurde 2009 direkt zum Bürgermeister gewählt. In Kempen hingegen entsprangen die bisherigen hauptamtlichen Bürgermeister Hensel (1999 bis 2009) und Rübo (2009 bis 2020) aus klassischen Verwaltungskarrieren. Hensel war seit 1990 Stadtdirektor. Rübo war vor seiner ersten Wahl bereits Erster Beigeordneter im Rathaus. Insofern bedeutet die bevorstehende Bürgermeisterwahl in jedem Fall eine Zäsur. Philipp Kraft (CDU), Cedric Franzes (FDP) und Georg Alsdorf (FWK) sind Kandidaten, die nicht aus der Verwaltung kommen. Christoph Dellmans ist zwar seit mehr als 25 Jahren Mitarbeiter der Verwaltung, dafür ist er aber parteilos. Ebenfalls eine Veränderung auf dem Posten des Verwaltungschefs.

Im laufenden Geschäft
hat der Stadtrat wenig Einfluss

Beim Blick ins Innere des Rathauses sollten also ohne Frage die drei Dezernenten und der Bürgermeister die treibenden Kräfte sein. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass das laufende Geschäft auch wirklich läuft. Zum Beispiel ist die Genehmigung eines Bauantrags ein Akt der laufenden Verwaltung. Und wenn es dabei nicht rund läuft, ist das zunächst ein Problem der Verwaltung und des betroffenen Bauherrn. Der Stadtrat hat an dieser Stelle wenig Einfluss.

Allerdings kann der Stadtrat dafür sorgen, dass das Bauamt zum Beispiel mehr Personal bekommt. Dafür kann die Verwaltung zum einen über den Stellenplan mehr Personal beantragen. Das müsste dann vom Rat genehmigt werden. Andersherum können die Fraktionen im Rat initiativ Anträge stellen, damit mehr Personal eingestellt wird.

Die CDU hat derzeit
20 von 44 Sitzen im Stadtrat

Was mit den Anträgen passiert, hängt letztlich von den Mehrheiten im Stadtrat ab. Derzeit hat keine Fraktion die absolute Mehrheit, also mehr als 50 Prozent der Sitze. Die CDU hat mit 20 von 44 die meisten Mandate. Für einen Beschluss nach ihren Vorstellungen brauchen die Christdemokraten also immer die Stimmen von anderen Fraktionen. Die drei Sitze der FDP würden ausreichen. Wenn die CDU nur die Stimmen von FWK oder Linken (jeweils 2) sicher hat, müsste auch Bürgermeister Rübo (CDU) mit seinen Parteikollegen stimmen, um eine Mehrheit sicherzustellen. Andersherum könnten alle anderen Vertreter (SPD, Grüne, FDP, Freie Wähler, Linke und der fraktionslose Jeyaratnam Caniceus) gegen die CDU und den Bürgermeister einen Beschluss durchbringen.

Für ein Vorhaben außerhalb des laufenden Geschäfts braucht der Bürgermeister also immer die Mehrheit im Rat. Dies ist zum Beispiel bei der Änderung eines Bebauungsplans oder bei der Aufstellung des Haushaltes der Fall. Aber auch beim Projekt Schulneubau auf dem Ludwig-Jahn-Platz, an dem sich das Verfahren ganz praktisch aufzeigen lässt.

Kräfteverhältnisse am
Beispiel Ludwig-Jahn-Platz

Ein Beispiel: Christoph Dellmans gewinnt die Wahl. Er ist Bürgermeister und setzt sich zum Ziel, den Schulneubau auf dem Ludwig-Jahn-Platz zu verhindern. Im Stadtrat herrschen aber Mehrheitsverhältnisse, die für dieses Vorhaben von Dellmans problematisch sind. Denn mehrere Fraktionen – zum Beispiel CDU, FDP, Linke und Freie Wähler – bekommen weiterhin zusammen eine Mehrheit hin, die die Ergebnisse der dann vorliegenden Machbarkeitsstudie unterstützt: Auf dem Jahn-Platz soll eine Schule und an der Berliner Allee ein neuer Sportplatz gebaut werden. Sollte dieser Wunsch der Parteien im Rahmen von Recht und Gesetz umzusetzen und über den städtischen Haushalt zu finanzieren sein, könnte sich Bürgermeister Dellmans – salopp formuliert – auf den Kopf stellen. Er könnte das Projekt und damit den Willen der politischen Mehrheit nicht verhindern.

Insofern sind die Machtverhältnisse in einer Kommune durchaus ausgelichen. Eine Balance ist durch die Gemeindeordnung vorgegeben. Wobei der Bürgermeister, wenn er sich an Recht und Gesetz hält, in der Verwaltungsführung die vorgesehene Macht hat. Andersherum muss er den politischen Willen des Rates berücksichtigen und auch umsetzen, falls dieser nicht den Vorgaben von Recht und Gesetz entgegensteht. Außerdem müssen Anträge der Fraktionen mit dem Haushalt vereinbar sein. Für seine Ideen und Projekte wiederum braucht der Bürgermeister Mehrheiten im Rat, die von Thema zu Thema zu beschaffen sind. Denn Koalitionsverträge wie in Land und Bund gibt es in den Städten und Gemeinden nicht. Aber netürlich ist der Weg eines CDU-Bürgermeisters zur CDU-Fraktion kurz. Ähnlich kurz wäre der Weg eines Parteilosen aber womöglich auch zu den Fraktionen, die ihn nominiert haben.