Buchpreisträger Dinçer Güçyeter in Kempen Deutschtürkische Erfahrungswelten in Poesie gebracht
Kempen · Der Nettetaler Autor Dinçer Güçyeter trug im Kulturforum seine preisgekrönten Werke vor.
(tg) Es dürfte Seltenheitswert haben, dass ein frisch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und erst im vergangenen Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneter Schriftsteller auf seiner Lesetournee Station in Kempen macht. Doch für Dinçer Güçyeter war der von VHS und Stadtbibliothek organisierte Auftritt am Donnerstagabend im gut gefüllten Rokokosaal des Franziskanerklosters ein Heimspiel.
Geboren, aufgewachsen und bis heute wohnhaft in Lobberich, verleiht er in seinen Werken den Erfahrungen mehrerer Generationen türkischer Einwanderer einen so bislang wohl selten gehörten Ausdruck, gibt den oft nicht Wahrgenommenen eine Stimme und trifft damit offensichtlich beim Publikum einen Nerv. Seine Motivation für das Schreiben? „Ich wollte Aufmerksamkeit.“ Die ist ihm mittlerweile gewiss.
Im Mittelpunkt stand
der preisgekrönte Roman
Im Mittelpunkt der Lesung stand das zwar als „Roman“ bezeichnete, eigentlich aber anarchisch über die Grenzen der Stile und Genres hinweg operierende Buch „Unser Deutschlandmärchen“, für das der Autor in Leipzig geehrt wurde und das im April 2024 in einer Theaterfassung auf die Bühne des Berliner Maxim-Gorki-Theaters kommen wird. Zusätzlich rezitierte Güçyeter aus früheren Gedichtbänden wie „Aus Glut geschnitzt“ und „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“. Gemeinsam ist den Texten der spielerische und assoziative Umgang mit Sprache, das Wechseln der Perspektiven, die Mischung aus Fiktion und Realität und das Aushalten von Widersprüchen.
Durch den in weiten Passagen freien Vortrag, der etwas von Poetry-Slam hatte, wurde die Eindringlichkeit noch erhöht. Zusätzlich streute Güçyeter immer wieder Anekdoten ein und antwortete auf Fragen aus dem Publikum. Auf diese Weise entstand vor den Augen der Zuhörer ein nachvollziehbares, ebenso humorvolles wie tiefgründiges Porträt seines Lebens und eine Würdigung der Menschen, die es prägten – etwa der hart arbeitenden, pragmatischen Mutter Fatma („Frauen wie sie haben sehr viel für dieses Land bewegt“) oder seines frühen Mentors, des damaligen Nettetaler Amtsrichters Hans Hoeke („Seine Figur gibt dem schweigenden Märchen eine Hand“).
Den Gastarbeiterkosmos oder das Rotlichtmilieu im Grenzland („Nettetal war das St. Pauli von NRW“) thematisierte Güçyeter ebenso unkonventionell wie die Welt der Fabrikarbeiter, die er seit seiner Ausbildung bei Pierburg kennt. Das Dilemma aller Migranten brachte er metaphorisch auf den Punkt: „Wenn du auf diesem Planeten ein Baum ohne Wurzeln bist, wie weit kannst du dann deine Äste strecken?“, um mit einem Gedicht, das er sich mit seinen beiden Kindern „beim Nudelkochen“ ausgedacht hat, auf einer heiteren Note zu schließen. Die Zuhörer dankten es mit großem Applaus.