Serie: Kempens Goldene Zeit (2) Eine Stadt in der Zeit des Wiederaufbaus

Kempen. · Nach der kirchenfeindlichen Zeit des Nationalsozialismus kommt es zu einer Renaissance vor allem katholischer Gläubigkeit. Im Sommer 1946 haben sich 87 Prozent der Kempener Eltern für die Wiedereinführung der Konfessionsschulen ausgesprochen. Das Kreuz, im „Dritten Reich“ verpönt, hält wieder Einzug in die Klassenzimmer. Künftig ist die Erziehung bewusst religiös.

 Palmsonntag 1950: Vom Kirchenschweizer Matthias (Theies) Niesemann empfangen Kempener Kinder Weihwasser und bringen es nach Hause, um es in das traditionelle Weihwasserbecken am Eingang umzufüllen.

Palmsonntag 1950: Vom Kirchenschweizer Matthias (Theies) Niesemann empfangen Kempener Kinder Weihwasser und bringen es nach Hause, um es in das traditionelle Weihwasserbecken am Eingang umzufüllen.

Foto: Archiv Propsteikirche

Sonntags ist natürlich der Gottesdienstbesuch Pflicht. In der Propsteikirche hält der Kirchenschweizer Matthias Niesemann, der im Gotteshaus für Ordnung zu sorgen hat, ein strenges Regiment. Tauscht beim Gottesdienst ein Junge Totenzettel gegen Heiligenbildchen, setzt es eine schallende Ohrfeige. Im Hintergrund sitzen die Klassenlehrer und kontrollieren, ob die Schüler vollzählig der sonntäglichen Messe beiwohnen. Fehlt einer, gibt’s Montagnachmittag den üblichen Besuch zu Hause. Ihren letzten Weg treten die Kempener damals, als es noch keine Leichenhalle gibt, mit einer Begräbniskutsche vom Trauerhaus zum Friedhof an.

 Alban Strahl, Schwiegersohn des Begräbnisunternehmers Heinrich Nepsen, Engerstraße 39, bringt mit dem Leichenwagen einen Verstorbenen vor seiner Beisetzung zur Totenmesse in die Propsteikirche.

Alban Strahl, Schwiegersohn des Begräbnisunternehmers Heinrich Nepsen, Engerstraße 39, bringt mit dem Leichenwagen einen Verstorbenen vor seiner Beisetzung zur Totenmesse in die Propsteikirche.

Foto: Nachlass Walter Schenk

In Kempen starten die 1950er-Jahre mit zwei Ereignissen, die die ganze Stadt auf die Beine bringen. Das erste: Am Dienstagabend, 15. August 1950, steigt eine junge Frau aus dem Zug, die Kempen wieder einmal in ganz Deutschland bekannt gemacht hat: Ria Lörper. Bei den deutschen Schwimmmeisterschaften in Göppingen vom 11. bis zum 13. August ist sie erneut zweifache Meisterin geworden – im 100- und 200-Meter-Brustschwimmen. Auch 1951 in Lüdenscheid wird sie in diesen Disziplinen Meisterin sein. Zu ihren Ehren wird der Bahnhofsvorplatz von Hunderten bunter Lampions erhellt: Die Stadt bringt ihrer Meisterin einen Fackelzug, geleitet sie im Triumph zu ihrem Elternhaus, der Gaststätte Heinrich Loerper, Markt 23 (die lag zwischen dem heutigen Modegeschäft Lübbenjans und dem Rathaus). An Lörpers Seite: Die deutsche Jugendmeisterin Kathi Jansen, erst 16 Jahre alt, die erneut die Jugendmeisterschaft im 100-Meter-Kraul gewonnen hat. Beide trainieren im Kempener SV Aegir.

 Die Schwimm-Meisterinnen Ria Lörper (links) und Kati Jansen lassen sich beim Empfang in Kempen feiern.

Die Schwimm-Meisterinnen Ria Lörper (links) und Kati Jansen lassen sich beim Empfang in Kempen feiern.

Foto: Rolli Wilmen

Festzug mit 2100 Teilnehmern
zog durch die Stadt

 Das Modell der ersten Kempener Pfarrkirche wird bei einem Festzug durch die Stadt präsentiert.

Das Modell der ersten Kempener Pfarrkirche wird bei einem Festzug durch die Stadt präsentiert.

Foto: Archiv Propsteikirche

Die zweite Großveranstaltung: Vom 9. bis 11. September 1950 feiert die Propsteikirche, die am 2. März 1945 durch eine Bombe in eine Ruine verwandelt worden ist, ihre Wiederherstellung und ihr 750-jähriges Marien-Patrozinium. 560 000 Mark hat der Wiederaufbau gekostet, 100 000 Mark haben die Sammlungen des Kirchenbauvereins aufgebracht. Dazu zieht am Sonntag, 10. September, ein Festzug mit 2100 Teilnehmern durch die Stadt. Am nächsten Tag weiht der Aachener Bischof Johannes Joseph van der Velden (Amtszeit: 1943-1954) mit einem Pontifikalamt das wieder hergestellte Gotteshaus ein. An der Arnoldstraße legt er anschließend den Grundstein zu sechs Doppelhäusern, errichtet auf Kirchenland. Weil bei Propst Wilhelm Oehmen unter der Last der Vorbereitung wieder ein altes Herzleiden aufgebrochen ist, geleitet Kaplan Paul Siepen den hohen Gast.

 Mit einem fabrikneuen Mercedes-KUKA-Müllwagen starten 1956 Josefine und Theo Schönmackers die Ära der staubfreien Müllabfuhr. Kempens erste Müllkutscher – Karl-Heinz Rixen und „Hansi” Vohwinkel – machen sich bereit zur ersten Fahrt.

Mit einem fabrikneuen Mercedes-KUKA-Müllwagen starten 1956 Josefine und Theo Schönmackers die Ära der staubfreien Müllabfuhr. Kempens erste Müllkutscher – Karl-Heinz Rixen und „Hansi” Vohwinkel – machen sich bereit zur ersten Fahrt.

Foto: Schönmackers UJmweltdienste/Schönmackers Umweltdienste

Bau der Kreisberufsschule
wurde beschlossen

Der Wiederaufbau macht große Fortschritte. Durch den Krieg sind in Kempen 65 Häuser völlig zerstört worden, 93 wurden schwer beschädigt. Insgesamt waren 320 Wohnungen unbrauchbar. Nun aber, von 1950 bis 1956, entstehen 240 Häuser mit etwa 700 Wohnungen, 124 Wohnungen allein 1950. Die Einwohnerzahl steigt: von 10 345 (1948) auf 12 405 in 1956. Am 21. März 1950 beschließt der Kreistag im Rokoko-Saal des Kramer-Museums den Bau einer Kreisberufsschule an der Kempener Von-Saarwerden-Straße. Aus ihr geht das heutige Berufskolleg des Kreises Viersen hervor. Und: Die Stadt wird sauberer. Bisher hat man den Müll in Kartons und anderen, vor dem Wegwerfen stehenden Behältern vor die Haustür gestellt. Keine Visitenkarte für das Kempener Straßenbild. Meistens enthalten die Gefäße Asche, übrig geblieben vom Brand aus Herden und Öfen. Wenn sie dann auf die Ladefläche der traktorbespannten Müllkarre ausgeleert werden, staubt es gewaltig. Am 17. April 1956 vergibt der Stadtrat den Auftrag über eine staubfreie Müllabfuhr in Mülltonnen an die Firma Schönmackers, die bisher als Spedition gearbeitet hat.

Fazit: Eine Welt, die uns heute so fremd vorkommt wie eine Puppenstube aus der Biedermeierzeit – und vielen Zeitgenossen, die sich nach Ordnung, Geborgenheit und klaren Regeln sehnen, auch so heimelig. Aber das ist eine nostalgische Verklärung angesichts unserer Gegenwart, die manch einem bedrohlich und kompliziert erscheint. Die Fünfzigerjahre waren schlicht und überschaubar. Im Wesentlichen schien die Welt heil. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse waren stabil, die Wirtschaft boomte. Aber die Aufbauzeit war von Prüderie und Mief geprägt. Die Gräueltaten der Nazis wurden verdrängt. Harte Arbeit und Profit, in Amt und Würden kommen und etwas darstellen – das waren die Ziele jener Zeit. Eine Frau durfte einen Beruf nur ausüben, wenn ihr Ehemann das erlaubte. Führerschein war Männersache. Männer weinten nicht. Homosexualität galt als Krankheit und wurde, wenn Mann sie praktizierte, nach dem Paragraph 175 bestraft. Sittenwächter bestimmten den Alltag. Der war geprägt von der bangen Frage: „Was werden denn die Leute sagen?“