Kempens Goldene Zeit (1) Wirtschaftswunder erreicht Kempen
Serie | Kempen. · Es ist die Epoche des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Industrie wird ihre Produkte reißend los. Mitte der 1950er-Jahre herrscht Vollbeschäftigung. In Kempen können schon 1953 verschiedene Bauprojekte wegen Mangels an Facharbeitern nicht realisiert werden. Bald wird man von einem Wirtschaftswunder sprechen. Ende Juni 1956 treffen die ersten Gastarbeiter ein: Italiener. Sie werden in der Landwirtschaft anpacken und dazu auf verschiedene Bauernhöfe verteilt.
Trotz knapper Einkommen macht sich ein bescheidener Wohlstand breit. Nach den Schrecken des Krieges und den Entbehrungen der Nachkriegszeit kann man das Leben wieder genießen. Jetzt wird mächtig nachgeholt: Bei jeder Gelegenheit wird gefeiert, getrunken, getanzt und gelacht. „Fresswelle“, „Kleiderwelle“, „Reisewelle“ sind die Trends jener Jahre und schließlich die „Einrichtungswelle“. Andererseits: Man weiß, wo’s langgeht; erprobte Werte – Zusammenhalt, Fleiß, Zuverlässigkeit – bestimmen das Leben.
Bei aller Lebensfreude, allen Neuerungen und Modernisierungen eine konservative, eine biedere Zeit. Eher langweilig erscheint sie den Heranwachsenden, die damals unter amerikanischem Einfluss erstmals eine eigene Jugendkultur entwickeln. Die tritt hervor in Comics, die die Kinder jetzt verschlingen – Heftchen wie „Micky Maus“ (aus der Feder des Filmemachers Walt Disney), „Akim“ (ein Urwald-Held) und „Sigurd“ (ein edler Ritter). Auch in Kempen spricht man bald von „Halbstarken“ und gründet Initiativen „Für das gute Buch“ und „Gegen Schmutz und Schund“. Kinder und Jugendliche wachsen in engen Wohnungen auf, organisierte Freizeit gibt es nicht. Erst im August 1955 weiht die Katholische Kirchengemeinde ihr Jugendheim auf dem Kauertzacker am Oedter Pfad ein, im September 1956 die Evangelische Kirche ihr Heim an der Aldekerker Straße.
Den Rock’n’Roll, den die jungen Leute im Kempener Kolpinghaus tanzen, nennen konservative Erwachsene „Negermusik“. Oft macht der Frust der jungen Leute sich in Vandalismus Luft, in Ausschreitungen und Diebstählen. Wie in der Nacht zum Sonntag, 9. Dezember 1956: Gegen halb vier Uhr morgens haben Rowdys den Zeitungsstand vor der Burg auf den Kopf gestellt, haben Ladentüren an der Peter- und Judenstraße verbarrikadiert, verschleppte Kanaldeckel und Bierleichen am Wegesrand zurückgelassen. „Rock around the clock ...“ Das mitreißende Lied von Bill Haley stammt aus dem Film „Saat der Gewalt“. Der wird 1956 in den Kempener Lichtspielen aufgeführt. Der Song wird zur Hymne einer weltweiten Teenager-Revolution.
Ein ganz neues Medium: das Fernsehen. Auch in Kempen ergreift es jetzt von den Wohnzimmern Besitz. Donnerstagabend, 15. März 1950: Vor dem Herrenbekleidungsgeschäft Karl Niermann am Markt drängt sich eine Zuschauermenge: Im Schaufenster flimmert ein Philips-Empfänger. Da läuft ein englischer Spielfilm. Viel mehr als Umrisse kann man auf der dunkelblauen Mattscheibe nicht erkennen. Es handelt sich um eine Versuchssendung, ausgestrahlt vom Funkhaus Hilversum mithilfe eines vom Philips-Konzern in Eindhoven aufgebauten Senders.
Kempener Alltag in den 1950er Jahren: Da gab’s noch keine Fußgängerzone in der Innenstadt. Hin und wieder ratterte ein Zündapp-Moped übers Kopfsteinpflaster, und ganz laut soll es gewesen sein, wenn abends nach dem Kino-Besuch die „Halbstarken“ auf ihren Mopeds durch die Judenstraße surrten und den Uhrmacher Michels in seinem Geschäft in Höhe der Bockengasse bei der Feinarbeit störten. Die jungen Leute zog es nämlich zu einer hochmodernen Errungenschaft – zur Pommes-Bude „Zum Thunig-Gut“ von Günter Thunig an der Umstraße, die stets umlagert war. Von Leuten, die „50-10-10“ bestellen: Für 50 Pfennig Pommes und für jeweils zehn Pfennige Mayonnaise und
Ketchup.
Da kommt sogar ein Auto – dem Gestank nach hat es einen gasbetriebenen Motor. Natürlich ein Opel Blitz, und auf der Stoßstange prangt das amtliche Kennzeichen BR-, dahinter eine Zahl. Unverschämt, wie der aus der Judenstraße in die Kuhstraße einbiegt, hat bestimmt zehn Stundenkilometer drauf. Fast hätte der Opel die Rosa gerammt – weiß man doch, das ist die Stute von Fuhrunternehmer Fritz Holtermann, der die Frachtgüter vom Bahnhof ausfährt. In Manchesterhosen, Pullover und mit breitkrempigem Hut rollt er durch die Stadt; und – stellt euch vor – fast lautlos. Denn sein Wagen ist schon gummibereift, und nur das Klappern von Rosas Hufen tönt von den stillen Hauswänden zurück. Abends macht der Laterne Pitt mit seinem Fahrrad die Runde, um jede einzelne der zahlreichen Gaslaternen mit langem Stab ins rechte Licht zu setzen. Das ist heute unvorstellbar – ebenso wie die Reinigung der städtischen
Unterwelt.
Sparkassen-Werbung fordert zum Streben nach Wohlstand auf
Die besorgt der Herr Wehlings. Mit seiner „Pratschkarre“ fährt er von Gully zu Gully, die schwarze Stute Flora vorgespannt, um dem Morast mit Kettengerassel und Hebebaum die fällige Abfuhr zu bereiten, damit er nicht in die Kanäle gerät. Knarrend schwebt der lange, schwarze Eimer nach oben und entlädt schwappend undefinierbaren Brei in das Kärrchen. Dafür geht’s woanders hochelegant zu: An der Judenstraße bietet das Strumpffachgeschäft von Guste Hubberten den Kempener Damen Reparaturen für Laufmaschen in den Nylons an. Für Wirtschaftswunder-Attribute wie Petticoats, Kleider im A-Linien-Stil mit Wespentaille und weiten Röcken muss man sich freilich in die benachbarten Großstädte bemühen. Dort gibt’s auch Jeans und Capri-Hosen, die das Lebensgefühl der Jugend treffen. Slogans kennzeichnen Aufbruchstimmung: „Wir sind wieder wer!“ Heißt: Nach der Nazi-Gräuelzeit und der Weltkriegsniederlage kriegt das Selbstwertgefühl Auftrieb. Oder: „Hast du was, bist du was!“ Eine klassisch gewordene Sparkassen-Werbung, die zum Streben nach Wohlstand auffordert.