Kreis Viersen „Teilhabegesetz ist der große Wurf“
Viersen. · Das Kreis-Jobcenter konnte mit dem neuen Instrument bereits 70 Menschen vermitteln.
Zunächst war sie ein bisschen nervös, das gibt Natalie Steinkuhl zu. Sie wusste von allen Dingen ein bisschen, wie man mit dem Computer umgeht oder das Faxgerät bedient zum Beispiel. Aber würde das für einen Bürojob reichen? Die Entwicklung der 43-Jährigen belegt: ja – wenn der Arbeitgeber mitspielt, ist eine ganze Menge möglich.
Heute sind Abrechnungen, die Telefonzentrale und der Umgang mit der Post für Steinkuhl längst kein Grund mehr, zweimal nachzudenken. Alles davon kam nacheinander, berichtet die 43-Jährige aus Süchteln: „Es ist schön, dass man hier Stück für Stück aufgebaut wird.“ „Hier“, das ist das Kolping-Bildungszentrum in Dülken, in dem Steinkuhl seit dem 1. Februar arbeitet, zunächst in Teilzeit. Dass ihr das ermöglicht wurde, bedeutet der 43-Jährigen viel. Denn als Mutter von vier Kindern und ohne eine Ausbildung, wäre es ohne das neue Teilhabechancengesetz wohl sehr schwierig geworden, eine feste Anstellung zu bekommen.
Die Förderdauer kann
maximal fünf Jahren betragen
Der neue Paragraf 16i im Sozialgesetzbuch regelt die „Teilhabe am Arbeitsmarkt“. Durch die Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses und eine begleitende Betreuung soll arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen soziale Teilhabe ermöglicht werden, erläutert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das neue Instrument zeichnet sich durch eine längere Förderdauer von bis zu fünf Jahren und einen Lohnkostenzuschuss aus. Dieser beträgt in den ersten zwei Jahren 100 Prozent auf Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns oder eines Tariflohns und sinkt ab dem dritten Jahr jährlich um zehn Prozentpunkte. Am 1. Januar trat das Gesetz in Kraft.
„Das ist etwas völlig Neues“, sagt Franz-Josef Schmitz, Geschäftsführer des Jobcenters Kreis Viersen, „der große Wurf, auf den wir gewartet haben.“ Als sich 2018 abzeichnete, dass das Gesetz kommen wird, hat das Jobcenter schon mit den Vorbereitungen begonnen. „Wir wollten nichts Unüberlegtes, sondern uns frühzeitig gut aufstellen“, sagt Schmitz. Nach gut einem halben Jahr fällt das Zwischenfazit positiv aus. Schmitz: „Es funktioniert, wir sind auf dem richtigen Weg.“ Von den 120 Langzeitarbeitslosen, die das Jobcenter in diesem Jahr in Arbeit bringen will, hat es bereits bei 70 geklappt. Etwa ein Drittel davon sind Frauen, zwei Drittel Männer.
Steinkuhl ist gerade 15, als ihre Mutter stirbt. Eine Ausbildung zur Arzthelferin bricht sie nach dem Realschulabschluss ab, es folgen Hilfsjobs. Mit vier Kindern ist an Arbeit irgendwann nicht mehr zu denken. Heute sind sie alt genug, um auch mal alleine klar zu kommen, und Steinkuhl jung genug, um noch etwas zu machen, sagt sie.
Das Interesse der Arbeitgeber
an dem Programm sei groß
Um möglichst passgenau zu vermitteln, also den richtigen Arbeitnehmer für eine Stelle oder umgekehrt zu finden, betreibt das Jobcenter intensive Akquise. Zwei Mitarbeiter kümmern sich darum, um einen dritten wird aufgestockt. Laut Schmitz gab es bei den 70 Vermittlungen erst „ein bis zwei Fälle“, in denen es doch nicht funktioniert hat. Das Interesse der Arbeitnehmer sei groß: Im Mai gab es 250 gemeldete Stellen bei 135 Arbeitgebern – wie Schmitz betont, branchenübergreifend und aus Privatwirtschaft (150), kommunalen Arbeitgebern (40), Vereinen und Wohlfahrtsverbänden (20) sowie Bildungsträgern (40). Insgesamt gebe es im Kreis Viersen etwa 1000 Personen, die für das neue Gesetz grundsätzlich in Frage kommen, also unter anderem älter als 25 sind und für mindestens sechs Jahre in den vergangenen sieben Jahren Arbeitslosengeld II (“Hartz IV“) bezogen haben – verteilt auf alle Altersgruppen.
Die Sorge, Arbeitgeber könnten die Förderung ausnutzen und Arbeitnehmer danach wieder entlassen, sei berechtigt, sagt Schmitz: „Aber das trifft auf die Mehrheit nicht zu.“ Vielmehr könnten Arbeitgeber durch das neue Instrument, dass auch Förderungen für Weiterbildungen beinhaltet, ungelernte Kräfte weiterentwickeln und dadurch ihren Fachkräftebedarf selbst decken. Auch Steinkuhls Vorgesetzte, Regionalleiterin Dorothea Doerfel, sagt: „Ohne das neue Gesetz hätten wir niemanden eingestellt. So können wir das jetzt ausprobieren.“