Schlossfestspiele Neersen Ernste Töne und Gelächter

Im fast ausverkauften Ratssaal lernte das Festspiel-Publikum durch Hans-Jürgen Schatz unbekannte Seiten von Erich Kästner kennen.

Foto: Kurt Lübke

Neersen. Erich Kästner kennt fast jeder: Nach dem 1899 in Dresden geborenen Schriftsteller werden sogar Schulen und Kindergärten benannt. Seine berühmten Romane — darunter „Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“ und „Das fliegende Klassenzimmer“ — sind mehr als 40 Mal verfilmt worden. Auf die vielen Besucher der Kästner-Lesung bei den Neersener Schlossfestspielen wartete dennoch eine Überraschung: Sie lernten den Autor von einer ganz anderen Seite kennen.

Dafür verantwortlich war Hans-Jürgen Schatz (58). Der Berliner Schauspieler und Rezitator eröffnete das Gastspiel-Programm der Spielzeit 2017. Intendant Jan Bodinus hatte mit ihm einen verdammt guten Griff getan. Denn Schatz — blaues Sakko, Einstecktuch, Hand locker in der Tasche — gelang es ganz wunderbar, den Humoristen und Kinderbuchautoren Kästner mit dem Satiriker und bitterbösen Zeitkritiker, als der er ursprünglich bekannt geworden war, zu verbinden.

„Ich möchte Ihnen viele Farben von Kästners großer Palette zeigen“, kündigte Schatz an — und er hielt Wort. Sein Querschnitt durch die „Gebrauchslyrik“ für Erwachsene setzte in Kästners vielleicht produktivsten Phase in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein.

In Gedichten wie „Sergeant Waurich“ setzte sich der junge Schriftsteller, der selbst Soldat im 1. Weltkrieg gewesen war, damals mit dem Militarismus und der Kriegsbegeisterung im Deutschen Kaiserreich auseinander. Und er kritisierte scharf das „Land, wo die Kanonen blühen“, in dem man nicht als Zivilist geboren wird: „Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.“ Kein Wunder, dass der Autor solcher Zeilen 1933 mit ansehen musste, wie seine Bücher von den Nazis als „wider den deutschen Geist“ verbrannt wurden.

„Neue Sachlichkeit“ nennt man heute die Literaturrichtung der Weimarer Republik, deren wichtiger Vertreter Kästner war. Seine Themen, seine Sprache, der Rhythmus seiner Worte haben bis heute nichts an Kraft verloren. Hans-Jürgen Schatz brachte dies bei seinem ersten Festspiel-Auftritt überhaupt frisch und wahrhaftig herüber. Die Reaktionen des Publikums pendelten zwischen betroffenem Schweigen beim „ernsten Kästner“ und spontanem Lachen bei humoristischen Gedichten wie „Gemurmel eines Kellners“.

Voll in seinem Element war Schatz, als er zwei Kapitel aus „Emil und die Detektive“ zu einer kleinen Theater-Aufführung machten. Mal näselnd, mal berlinernd, mal brummend schlüpfte er in die unterschiedlichesten Rollen des berühmten Romans. Garniert wurde das Ganze mit Hupen-Tönen und Fahrrad-Geklingel.

Am Ende ließ das Publikum den Schauspieler erst nach mehreren Zugaben gehen. Die letzte davon war „Ein reizender Abend“ — was in der Kurzgeschichte über Einladungen, eine bissige Dogge und Kalbskoteletts zwar ironisch gemeint war, im Falle von Hans-Jürgen Schatz als Lob aber ganz gewiss verdient ist.