VHS-Vortrag in Schiefbahn Warum vertritt ein Migrant einen Nazi?
Schiefbahn · Der Kölner Jurist Mustafa Kaplan, der den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht verteidigte, sprach in Schiefbahn darüber, was ihn zu seiner Arbeit motiviert.
(tg) Es war ein Fall, der vor vier Jahren bundesweit für Entsetzen sorgte: die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch den fanatischen Neonazi Stephan Ernst, der den Politiker – angestachelt von blindwütigem Fremdenhass – für dessen liberale Haltung in der Migrationspolitik zur Rechenschaft ziehen wollte. Zu seinem Pflichtverteidiger im folgenden Prozess erkor Ernst ausgerechnet einen Anwalt mit ausländischen Wurzeln: Mustafa Kaplan, der bereits zuvor Rechtsradikale und Salafisten sowie den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan vor Gericht vertreten hatte. Als Teil der VHS-Vortragsreihe „Das Böse“ war Kaplan nun am Donnerstagabend zu Gast in der Bibliothek im Brauhaus in Willich-Schiefbahn und schilderte im bis auf den letzten Platz besetzten Vortragssaal die Beweggründe seines Handelns sowie seine Wahrnehmung des Mandanten.
Ausgangspunkt der Veranstaltung war Kaplans Lesung zweier Kapitel aus seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Anwalt der Bösen“, in denen er sein erstes Treffen mit Ernst im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses und die Entwicklung einer Argumentation zu dessen Verteidigung beschreibt. Daran schlossen sich jeweils Fragerunden mit dem sichtlich aufgewühlten Publikum an.
Kaplan führte aus, dass ihn zum Teil menschliches Interesse am Angeklagten dazu bewog, seine Verteidigung zu übernehmen: „Ich wollte wissen: wie tickt dieser Typ? Ich fand ihn äußerst interessant.“ In den Gesprächen habe sich erwiesen, dass eine zentrale Erklärung für Ernsts politische Radikalisierung und seinen Hang zur Gewalt in seiner Kindheit und Jugend zu suchen sei, als er von seinem cholerischen, alkoholsüchtigen Vater tyrannisiert wurde: „Man muss sich das vorstellen: ein Neo-Nazi erzählt unter Tränen einem türkischstämmigen Anwalt von seinem Vater.“ Letztlich habe diese Aufarbeitung bei Ernst einen Prozess der Selbsterkenntnis und Reue in Gang gesetzt, so Kaplan: „Ich habe daher als Mandant gerne mit ihm zusammengearbeitet.“ Zugleich betonte er, dass seine Arbeit zur Wahrung rechtsstaatlicher Standards beitrage: „Wir haben in Deutschland ein Rechtssystem, das seinesgleichen sucht. Jeder hat Anspruch auf juristische Hilfe. In einem Prozess mit so großer öffentlicher Anteilnahme hat der Angeklagte nur mich.“
Als Verteidiger spiele man ebenso eine Rolle wie Kläger, Richter und Staatsanwalt und versuche, das bestmögliche Ergebnis für seinen Klienten zu erzielen. Dazu gehöre die Einhaltung von Spielregeln wie der, dass die Beweislast stets bei der Anklage liegt oder, dass der Angeklagte in gewissem Maße lügen darf. Dass man sich mit dieser Arbeit bei einer Öffentlichkeit, die zu Vorverurteilungen neigt, nicht überall beliebt macht, scheint Kaplan nichts anzuhaben: „Ich provoziere gerne. Mir ist klar, dass ich nicht Everybody‘s Darling bin.“ Während sich Ernst im Fall Lübcke geständig zeigte und 2021 für den Mord zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, konnte ihm dank Kaplans Arbeit in zwei weiteren Anklagepunkten keine Schuld nachgewiesen werden.
Wie der intensive Austausch zwischen Anwalt und Publikum erwies, ist es nur mit Magenschmerzen möglich, die landläufige Vorstellung vom „Bösen“ mit der juristischen Praxis in Einklang zu bringen. Jedenfalls lehrte der Abend, dass kein Mensch als „Böser“ geboren wird. Justitia hat verbundene Augen: gerade denen gegenüber, die sie verachten.