Tipp aus der Stadtbücherei Tönisvorst Von einem Hochstapler

Tönisvorst · . (Red) Carmen Alonso ist die Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei an der Hochstraße in St. Tönis. In loser Folge gibt sie unseren Lesern Literaturtipps. Diesmal: „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ von Maxim Leo.

Carmen Alonso leitet die Stadtbibliothek Tönisvorst.

Foto: Marc Schütz

Manchmal reicht der erste Satz, und es schwant einem bereits, was für ein Buch einen denn da erwartet: „Eine Fliege landete auf Hartungs Arm und riss ihn aus seinen Gedanken. Naja, Gedanken …“ Genau, Hartung ist eher antriebslos, verschiedenste Jobs hat er im Laufe der Jahre ohne Ehrgeiz ausprobiert. Mittlerweile ist er erfolgloser Besitzer einer Videothek. Eines Tages nun betritt ein Mann das Geschäft, der sich als Journalist vorstellt und energisch ein Interview mit ihm führen möchte: In sechs Wochen jährt sich zum 30. Mal der Tag des Mauerfalls, und dieser Alexander Landmann plant eine Sonderbeilage über jenen 12. Juli 1983, als ein S-Bahn-Zug vom Bahnhof Friedrichstraße losfuhr und – aufgrund einer falsch eingestellten Weiche – einfach gen Westen fährt. Hartung war damals stellvertretender Stellwerkmeister und brach angeblich, so Landmanns Recherchen, einen Sicherheitsbolzen ab, die Weiche wurde dadurch blockiert und eine spektakuläre Massenflucht ermöglicht.

Aus Missverständnissen, persönlichen Eitelkeiten und purem Egoismus entwickelt sich eine temporeich erzählte Geschichte: Landmann schuldet seiner Nachrichten-Redaktion die angekündigte Exklusivmeldung, Hartung seinerseits findet Gefallen an dem ungewohnten Ruhm. Der selbsternannte neue Manager Landmann aber findet kein Ende und zieht immer abstrusere, aber gut bezahlte Events an Land.

Viele werden aufmerksam auf den „Helden“: So Harald Wischnewsky von der „Stiftung gegen das Vergessen“, der eigentlich – als verdienter ostdeutscher Bürgerrechtler – die Gedenk-Rede zum anstehenden Jahrestag des Mauerfalls im Deutschen Bundestag halten sollte. Aber der Bundespräsident persönlich schaltet sich ein: Er möchte keine ostdeutschen Zausel mehr, keine dieser alten Revolutions-Kumpane. Wischnewsky wird kühl ausgeladen, kann diese Demütigung kaum verwinden. Und da ist auch die bezaubernde Paula, die damals 14-jährig mit ihren Eltern in jener S-Bahn saß und erschrocken im Westen landete und unerwartet in einem neuen Leben. Irgendwann kommt unausweichlich der große Tag der Gedenk-Rede und ein hochkarätiges Publikum sieht Hartung erwartungsvoll an.

Diese schwungvoll-satirische Hochstaplergeschichte über Lüge und Wahrheit, Sensationslust und den Wunsch nach Anerkennung ist witzig und zugleich anrührend erzählt: Eine unterhaltsame und doch unerbittliche Medienkritik.

Leo, Maxim: „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ (KiWi, 2022). 295 Seiten.

(RP)