St. Tönis: Als Rahn den Spielverein abschoss
Nach dem Krieg hatte der SV St. Tönis legendäre Mannschaften. Einige Aktive blicken zurück.
St. Tönis. Wenn Willi van den Berg (89), Paul Schloßmacher (86) und Hans Kutz (82) hören, dass Fußballprofis vor dem Spiel "anschwitzen" müssen, können sie nur müde lächeln - oder gleich lauthals loslachen. Wenn sie nämlich an ihre aktive Zeit beim Spielverein St. Tönis zurückdenken. Da ging das erste Warmmachen vor dem Spiel anders, ganz anders.
Das war wenige Jahre nach dem Krieg. "Wir wurden mit dem Lkw zum Spiel nach Dülken gefahren", erinnert sich Paul Schloßmacher, damals auf der Läufer-Position eingesetzt. Der Lkw (Fahrer war "Vincenz Pitter") war ein typisches Kriegs- und Nachkriegsmodell: Er wurde mit Holz-Vergaser betrieben, hatte folglich nicht immer eine Riesen-PS-Leistung vorzuweisen. Was an den Süchtelner Höhen schlecht war. "Wir mussten alle runter und schieben", sagt Schloßmacher. Einmal oben, reichte der Schwung dann bis Dülken.
Es war eine völlig andere Zeit nach dem Krieg. Der Spielbetrieb war zum Erliegen gekommen und musste erst mühsam wieder aufgebaut werden. Trikots? Fehlanzeige. "Die Turnhosen hatten wir noch von der Hitlerjugend, die Unterhemden haben wir bei Kress gelb eingefärbt", sagt Hans Kutz, damals blutjunger Rechtsaußen.
An seine Ausrüstung anno 1946 hat Willi van den Berg seine besondere Erinnerung: "Ich wurde von den Engländern in Weeze aus der Gefangenschaft entlassen, sollte in der 1. Mannschaft spielen, hatte aber noch keine Schuhe." Angeboten wurde dem Rechtsaußen ein paar ziemlich alter Handballschuhe ("Dat wore e paar Latsche"). Der Preis war hoch, "50Pfund Kartoffeln haben sie gekostet", sagt van den Berg lachend.
Es holperte, rumpelte, Ligen wurden gegründet, umbenannt, abgeschafft, aber irgendwie kam der Betrieb ans Laufen. 1949 stieg der Spielverein in die Verbands-Amateurliga auf, die wohl höchste Klasse hierzulande. 1950 musste die Truppe in Katernberg antreten. "Während der Busfahrt wurde erzählt, dass dort ein langer, dunkelhaariger Stürmer spielen würde, der sehr stark sei", erinnert sich Hans Kutz. Was der legendäre Willi Marquard mit dem Satz kommentierte: "Lott em mar komme."
Der Mann kam tatsächlich. Und zwar so, dass er allenfalls durch Fouls zu bremsen war. Drei Tore verpasste er den St.Tönisern in der ersten Halbzeit. Das Spiel ging mit 1:4 verloren. Jahre später erfuhren die Spieler, wer sie da so schwindlig gespielt hatte: Helmut "Boss" Rahn.
Blickt man den betagten Herrschaften ins Auge, ist immer wieder die Begeisterung zu sehen, mit der sie ihren Sport betrieben haben. Ohne die Umstände zu glorifizieren. Vieles kann man sich heute schlichtweg nicht mehr vorstellen. Zum Beispiel die Situation in den Umkleiden oder Duschen. So "Wir haben uns in Lobberich mit 22 Spielern in Lobberich mal bei 14 Grad minus waschen müssen. Die Pumpe war ein Meter hoch voll Eis", erzählt Paul Schlossmacher. Wirklich Spaß habe das nicht gemacht.
Was dagegen oft Spaß machte, war die Kulisse. "Die Menschen hatten ja nichts anderes. Nicht selten kamen 2000 bis 3000 Zuschauer zu den Spielen", sagt Hans Kutz. "Besonders zu den Lokalderbys gegen Hardt, Süchteln, Helenabrunn oder auch Breyell und Kaldenkirchen", sagt van den Berg. Diese Spiele seien nicht immer die reine Freude gewesen. Da gab’s auch schon mal Knochenbrüche. Und wenn ein Spieler verletzt ausfiel, ging’s mit zehn Mann weiter, der Auswechselspieler wurde erst sehr viel später eingeführt.
Wie ging die Karriere der "Alt-Internationalen" weiter? Viele von ihnen wechselten in die Reservemannschaft des Spielvereins. Die nicht "Zweite" hieß, sondern 1b. Hier entwickelte sich eine verschworene Gemeinschaft. Gleich fünfmal wurde die Truppe Kreismeister, allein dreimal im Endspiel gegen Breyell, einen Verein, mit dem die St. Töniser eine herzliche Freundschaft verband.
Heute gibt es noch eine Handvoll Aktiver aus dieser Zeit, alle sind seit über 70 Jahren im Spielverein. Eines hatten alle aus der Mannschaft gemeinsam: Keiner war geschieden, alle Ehen haben gehalten. "Trotz des ganzen Trallalas, das wir hatten", sagt einer der Veteranen. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.