Wie ansteckend ist mein Nachbar? Sinfonien mit Maskenpflicht

Im ersten „Sternzeichen“-Konzert suggeriert die Tonhalle weitgehend virenfreie Bedingungen. Ein mulmiges Gefühl bleibt trotzdem.

Eine Szene aus dem ersten Symphoniekonzert in der neuen Saison: Die Pause ist zu Ende, gleich geht das Konzert weiter.

Foto: Tonhalle/Susanne Diesner

Ob die Leitung des Gesundheitsamtes am Freitagabend mit im Parkett der Tonhalle saß? Michael Becker jedenfalls, Intendant des Hauses und seines Orchesters, sitzt mit all den anderen Mund-Nasen-Schutz-maskierten Zuhörern ohne jeden Abstand auf seinem Stammplatz im zweiten Parkett und genießt das erste Sternzeichen-Konzert nach dem Lockdown. Ob ihm mulmig ist? Öffentlich sagt er es nicht. Im Gegenteil. Das amtlich abgesegnete Hygiene-Konzept sei mehr als toll.

So sitzen wir da und laben uns am Spiel eines der weltbesten Geiger. Frank Peter Zimmermann beseelt die Solopartie in Alban Bergs Violinkonzert, das den biografischen Beinamen „dem Andenken eines Engels“ trägt, mit einer um die Abgründe des Seins wissenden Musikalität, einem Ton, der ins Herz dringt, einer Virtuosität, die blendfrei gen Himmel strebt, dass man dahinschmelzen mag. Zugleich atmen kaum 60 Zentimeter entfernt wildfremde Menschen in Stofflappen. An jeder Kasse würde man militant um Abstand kämpfen. Im Mendelssohn-Saal zaubert eine Klimaanlage. Angeblich.

Auf dieses technische Wunderwerk hält die Stadt große Stücke. Nicht nur, dass die Technik selbst bei vollbesetztem Saal mit rund 50 Kubikmetern pro Stunde mehr als das Doppelte der von der DIN 1946 geforderten Menge umwälzt, was bedeutet, dass die Raumluft mindestens viermal pro Stunde ausgetauscht wird. Die angesaugte Außenluft gilt auch noch als praktisch virenfrei, wird bodennah in den Saal gepustet, wofür das schöne Wort „Quelllüftung“ erfunden wurde, und direkt unter jedem Sitz nach oben abgesaugt. Da soll sich kein Virus in Nachbars Nase verirren. Und weil die Luftfeuchte im Saal nur bei rund 50 Prozent liegt, fühlen sich Viren aller Art nicht sonderlich wohl. Aktuell wird davon ausgegangen, dass unter diesen Bedingungen auch das Coronavirus die geringste Aktivität zeigt.

Ansonsten gilt penibles Abstand-Gebot. Elf Eingänge hat die Tonhalle installiert, von der Terrasse geht’s auf kurzen Wegen in den Rang. Neben Einbahnstraßen am Haupteingang sind eine VIP-Schleuse und Öffnungen im Grünen Gewölbe eingerichtet. Das sehr Kleingedruckte auf den Eintrittskarten weist jedem ein Zeitfenster für den Eintritt zu, sogar eine eigene Garderobe.

Die Musiker auf der Bühne
halten maskenlos Abstand

Nur die Rang-Besucher müssen ihre Mäntel mitnehmen und auf die (leere) Reihe vor sich legen. Ungeregelt nah wird’s bloß, wenn man an schon sitzenden Besuchern vorbei muss. Und beim reichlich ungeordneten Verlassen des Saals. Ansteckungsgefahr beim Bierholen besteht jedenfalls kaum, denn die Pavillons stehen draußen vor der Tür. Samt Flatterband und Distanz-Klebestreifen. Die Musiker auf der Bühne halten maskenlos Abstand. Ein Pult für jeden, Strümpfe auf den Luft- und damit Aerosol-Öffnungen der Blasinstrumente. Vier Parkettreihen rund um die Bühne bleiben unbesetzt. Die Musiker offenbaren unbändige Spielfreude. Endlich wieder Beethoven, die 3. Leonoren-Ouvertüre. Großes Drama mit Pauken und Trompetenfanfaren aus dem Off. Überraschend, überbordend wirkt die Präsenz gerade der Holzbläser, die durch eine sehr kleine Streicherbesetzung bedingt ist. Zwei Bässe, vier Celli und so weiter machen nicht viel her.

Dafür legt sich David Reiland ins Zeug, bleibt bei aller Theatralik sehr genau, instruktiv, mitreißend. Er ist der neue „Schumanngast der Tonhalle“, wird uns in der neuen Spielzeit ebenso noch häufig begegnen wie Zimmermann, der als erster „Artist in residence“ in der Geschichte des Hauses geführt wird. Reiland kann auch Mozart, die perfekten Tempi, die sorgfältig und manchmal gegen den Strich phrasierten Melodien der „Linzer“ schnurren noch lange im Ohr. Was bleibt nach diesem Sternzeichen-Symphoniekonzert, ist auch ein mulmiges, banges Gefühl. Dass alles bitte gut gehe, sich niemand angesteckt habe. Denn, um Loriot zu verballhornen: Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos.