Konzert Tamar Beraia eröffnet den Klavierzyklus

Wuppertal · Die noch junge Pianistin zeigte in der Historischen Stadthalle ihre ganze Bandbreite.

Tamara Beraia begeisterte in der Stadthalle.

Foto: Otto Krschak

Schon während ihres ersten Konzerts 2017 hier im Mendelssohn Saal der Historischen Stadthalle 2017 hatte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Nachdem ein ursprünglich für März 2020 geplantes Konzert ausfallen musste, kam Dank Corona Tamar Beraia jetzt zur Eröffnung des Bayer Klavierzyklusses. Die 1987 in Georgien geborene, lebt inzwischen in der Schweiz und hat nach Erfolgen bei etlichen Klavierwettbewerben (2012 Santander Paloma O´Shea, 2010 „Neue Sterne“ in Wernigerode, 2005 Tbilisi (Georgien) in ganz Europa und in den USA solistisch konzertiert. Sie wurde von der Pianistin Elisabeth Leonskaja und auch von Bayer im Rahmen des schon 2009 gegründeten stART-Programms für hochtalentierte junge Künstler gefördert. Heute kam sie in Begleitung von Beethoven (1770-172 und Liszt (1811-86). Diesen Komponisten scheint sie besonders verbunden zu sein, ist sie doch mit beiden auf ihrer letzten CD von 2018 zu hören.

Nach Hinweisen vom Veranstalter auf adäquates Verhalten im Konzertsaal zu Coronazeiten begann die Pianistin mit der der Klaviersonate Op. 2 Nr. 1 in f-moll (1795) des jungen, leidenschaftlichen Ludwig van, der im Alter von 25 Jahren mit diesem Werk die Reihe seiner 32 Klaviersonaten begann. Da lebte er schon sieben Jahre in Wien, hatte den Unterricht bei Haydn, dem diese Sonate auch gewidmet ist, bei Salieri u.a. genossen und sich mit Improvisationen und Virtuosität beim Wiener Publikum einen Namen als Pianist gemacht. Mit dieser 1. Sonate wollte er zeigen, dass die Eleganz des Rokokos musikalisch vorbei war, wollte Neues ausloten und erweiterte die Sonate sogleich auf vier Sätze statt bisher drei. Schon bei dem lebhaft und kräftig aufsteigendem f-moll Akkord im Sinne einer Mannheimer Rakete schlug die Pianistin mit intensiven, konzentrierten und präzisem Spiel ihr Publikum in den Bann. Nach kurzem Innehalten bei abwärts gerichtetem, punktiertem Motiv stürmt das Thema aus der Tiefe des Basses wieder ans Licht bevor das gegenläufige 2. Thema in As-Dur einen anderen Charakter offenbart. Die Durchführung beginnt in Dur. Die Themen kreisen um einander, wechseln vom Diskant in den Bass und zurück, wandern durch die Tonarten, pausieren bei der Generalpause. Zuletzt unterstützen oktavierte Orgelpunkt-Achtel Stakkato-Akkorde, die mit Subito forte und Forte fortissimo das Ende beschließen.

Das Adagio m ¾ Takt mit der aufsteigenden Sexte lässt bereits den langen pathetischen Atem späterer Sonaten erahnen und war lange das Lieblingsstück des jugendlichen Theodor W.Adorno, was heute Abend jeder im Saal gut verstehen konnte. Nach harmonischer Überraschung vor Schluss kommt das Scherzo ebenfalls in Moll mit verschobenem Takt nachdenklich daher, formal eher konventionell mit geläufigerem, geschwinderem, spielerischem Trio als Zwischenspiel.

Hoch virtuos und atemberaubend saust das Prestissmo-Finale. Souverän und hochmusikalisch fügt die Pianistin mit jugendlichem Temperament später Achtel und Triolen 4 gegen 3 zusammen und bewahrt mit wichtigen fast zu lauten Akkorden unter oder über nervösen Triolen die Struktur. Die Überakustik des Mendelssohnsaals bei nur 90 Zuhörern scheint ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Passend zum Jubiläumsjahr setzte die Pianistin mit den Bagatellen op. 33 von Beethoven das Programm fort. Um 1802, also nach der Mondscheinsonate geschrieben, hatte das Schicksal beim unglücklichen Komponisten schon an die Tür geklopft und er seine Melancholie wegen bereits manifester Schwerhörigkeit im Heiligenstädter Testament offenbart. Biographisch also durchaus beschwert, sind diese auch von Liebhaberpianisten noch spielbaren Klavierstücke alles andere als Lappalien. Liedhaft, als Scherzo oder als völlig freies Gedankenspiel mit auch virtuosen Sechzehnteln kommen sie daher. Beethoven hat sie selbst mit Opuszahl versehen, sie also in die Liste seiner wichtigen Werke aufgenommen. Viele große Pianisten haben sich der Bagatellen angenommen von Artur Schnabel, Rudolf Serkin oder Swjatoslaw Richter bis hin zu Glenn Gould und Alfred Brendel. Bei diesen Gedankensplittern, aufgeschriebenen Improvisationen, kleinen spielerischen Experimenten, Momenten, wie sie später in der Romantik als Moments Musicaux auftauchen, verstand der beglückte Zuhörer, dass Beethoven nicht nur als Schicksal bestimmender Titan seine Bedeutung entfaltet hat und erfuhr viel über die Sensibilität der Pianistin.

Anschließend gab sie den nächtlichen Liebestraum von Franz Liszt, der nach gewaltiger Akkorderöffnung, im Arpeggio die Klaviatur hinauf und hinunter, liedhaft in sonorer Mittellage beginnt. Nach milden Kaskaden steigern sich die Emotionen temperamentvoll in die Höhe, bevor sich Gefühl und Sentiment unter übergriffigen Händen wieder beruhigen. Wunderbar innig im Anschlag, sensibel in Agogik und Dynamik vermittelte Tamar Beraia jede Gemütsbewegung, jedem Hauch auch der mildesten Erregung. „O lieb so lang du lieben kannst …“ beginnt das dem Notturno zu Grunde liegende Gedicht von Ferdinand Freiligrath. Kitsch? Salon? Romantik? Das Publikum schien jedenfalls gerührt.

Als pianistischen Höhepunkt und Beschluss des Abends gab es die halsbrecherische Lisztsche Rhapsodie espagnole von 1863. Bei seinen Reisen als Klaviervirtuose, sozusagen als pianistischer Paganini, durch Europa war Franz Liszt auch nach Spanien gekommen, hatte dort spanische Musik und spanische Rhythmen kennen und schätzen gelernt. Mit dem musikalischen Thema „La Folia“, übersetzt „Blutrausch“ oder „Wahnsinn“ wird dieses Bravourstück einstimmig und zunächst einfach eröffnet. Aber dann! Später kommt „La Yota Aroganese“ dazu, ein alter spanischer Volkstanz, der im Original zu Gesang, Kastagnetten, Trommeln und Gitarren getanzt wird. Bei Liszt also purzelt die Musik mit zahllosen Tönen allein aus dem Flügel, und man kann nachvollziehen, welcher Star Liszt im Europa des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Das Publikum damals, vor allem das weibliche, verfiel bei seinen Auftritten in unkontrollierte, euphorische Begeisterung, wofür Heinrich Heine den Begriff der Lisztomanie prägte. Jedenfalls hätte Liszt an dieser Pianistin und ihrem brillanten, ungeheuer präsenten, stets durchsichtigem, hoch virtuosem und kraftvollem Klavierspiel seine Freude gehabt, ebenso wie das begeisterte Publikum. Damals bei Liszt erbat man sich eine Haarlocke vom Maestro als Erinnerung an seine Konzerte. Liszt soll sich eigens dafür einen Hund gekauft haben, um sein Haupthaar nicht zu gefährden. Heute hätte man als Erinnerung gerne eine signierte CD von Tamar Beraia erworben, was aber das Virus nicht zuließ. Nach großem Applaus gab sie als Zugabe quasi als Zwiegespräch mit ihrem Landsmann ein inniges, leises Klavierstück des georgischen Komponisten Gia Khancheli (1935-2019), der in Georgien mit Pop-, Film- und Bühnenmusik sehr bekannt geworden ist. Dankbar für diesen fesselnden und aufregenden Soloabend in Präsenz, also live und unplugged, verließ das disziplinierte Publikum entsprechen den Coronavorgaben sozusagen im Gänsemarsch den Saal und die guten Seelen der Stadthalle begann mit der Desinfektion der Geländer, der Stühle, des Flügels in Vorbereitung der Konzertwiederholung 90 Min später.