Familie aus Afghanistan kümmert sich um Landsleute

Viersen. Nadjibur Wessal war mit seiner Frau beim Einkaufen unterwegs, als ihn zwischen den Regalen plötzlich zwei Männer in seiner Muttersprache ansprachen. Sie wirkten orientierungslos, fast ängstlich.

Dieser Moment hat das Leben des Familienvaters verändert. Die Männer stammen wie er aus Afghanistan und sind als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Nun leben sie in Viersen.

Zwischen den Einkaufsregalen hatten sie gehört, wie das Ehepaar Wessal auf afghanisch miteinander sprach. Die jungen Männer erkannten sofort, dass sich die Wessals in Deutschland auskennen.

Also baten sie das Ehepaar um Hilfe. Und die Eheleute halfen gern. „Sie wussten nicht einmal, in welchem Teil von Deutschland sie waren“, erinnert sich der 54-Jährige. „Sie waren vollkommen verloren und wurden aus Bielefeld hierher verteilt.“ In der ostwestfälischen Großstadt ist eine der zentralen Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen. Von dort aus werden die Flüchtlinge weiter verteilt.

Seit dieser Begegnung kümmert sich der gebürtige Afghane, der 1980 nach Deutschland kam, um seine Landsleute. Neben den beiden aus dem Supermarkt noch um vier weitere Männer, die aus ihrer Heimat geflohen sind, allesamt in den Zwanzigern, also so alt wie Wessal selbst, als er nach Deutschland kam.

Drei Monate ist die Begegnung im Supermarkt inzwischen her. Seitdem pflegt der 54-Jährige engen Kontakt zu seinen Landsleuten, gibt ihnen Tipps, beantwortet Fragen und besorgt Dinge, die sie dringend brauchen. Noch fehlt den Männern ein Kleiderschrank. In ihren Wohnungen müssen sie ihre Kleidung tagsüber auf die Betten legen und nachts auf den Boden.

Ab und an kommen die Flüchtlinge zu Wessal nach Hause, um gemeinsam zu essen. Von den 320 Euro, die sie im Monat zum Leben haben, sind große Sprünge nicht möglich, aber alles ist besser, als ständig um das eigene Leben fürchten zu müssen.

Wessal, der nach Deutschland kam, um hier zu studieren, hat seinen Weg gemacht. Er hat vier Kinder, die alle das Gymnasium besuchen oder besucht haben. Er selbst arbeitet als Metallarbeiter in Neuss, seit 1986 schon. Den Job hatte er angenommen, nachdem es mit dem Studium doch nicht geklappt hatte. Die Behörden hätten seine Zeugnisse nicht anerkennen wollen, erzählt er. „Ich hätte noch einmal Abitur machen müssen.“

Den Flüchtlingen, um die er sich kümmert, geben seine Geschichte und die Unterstützung Halt. „Ich will, dass sie schnell Deutsch lernen“, sagt Wessal. Einer will hier die Schule besuchen, ein anderer Medizin studieren.“ So wie schon in seiner Heimat, wo er alles stehen und liegenlassen musste.

Wessal kennt die Lage in seinem Land. „Meine Kinder wollen gerne mal nach Afghanistan, aber ich traue mich nicht“, sagt er. Der Terror durch die Taliban und die radikal-islamische Gruppierung Islamischer Staat seien viel zu gefährlich.

Die Geschichte des 54-Jährigen ist die eines Vorbilds, aber auch die von einem, der seine Heimat verloren hat. Als er vor einigen Jahren dorthin zurückkehrte, war nichts mehr so, wie er es in Erinnerung hatte. „2006 war ich nach 25 Jahren das erste Mal wieder in Afghanistan. Ich habe meine Heimat nicht mehr wiedererkannt“, sagt Wessal. „Ich war wie ein Fremder im eigenen Land.“