Gas-Unfall: Die Menschen fielen einfach um
Ein Leck in der Feuerlöschanlage einer Lackfabrik forderte am Samstag in Mönchengladbach 107 Verletzte. Drei Menschen mussten reanimiert werden.
Mönchengladbach. Abgesperrte Häuser, mehr als 150 Menschen in Notzelten, Hubschrauber, die über der gefährlichen Gaswolke kreisen - Mönchengladbach erlebte am Samstag nach dem Austritt von großen Mengen Kohlendioxid aus einer Lack-Fabrik einen Alptraum.
Völlig aufgelöst sitzt Petra Schuster in einem der Notfallzelte. Neben ihr auf dem Boden kauert zitternd ihr kleiner Jack-Russel-Terrier Lotte. "Ich habe gedacht, das war es", sagt sie während Notfallseelsorger Ulrich Meihsner ihre Hand hält.
"So was habe ich noch nie erlebt. Das war die totale Panik, ich hatte Todesangst", sagt sie mit zitternder Stimme. "Ich war gerade mit meiner Lotte draußen, als es sich anfühlte, als würde jemand die Hand um meinen Brustkorb legen und immer fester zudrücken."
Dann habe sie ihren Hund Lotte hochgerissen und sei nur noch losgelaufen. "Aber meine Kräfte schwanden immer mehr. Es fühlte sich an wie beim Tauchen, wenn man die Luft anhält. Ich dachte, ich sterbe", sagt sie und beginnt zu weinen. An ihren Mann und ihre kleine Tochter habe sie noch gedacht.
Irgendwann gelangte sie mit letzter Kraft aus der tödlichen Gas-Zone, und frischer Sauerstoff strömte wieder in ihre Lungen: "Wunderschön wie einen schlaffen Luftballon, den man aufbläst." Dann brachten Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten sie endgültig aus der Gefahrenzone.
Wie Petra Schuster ging es vielen Anwohnern. "Die Menschen sind auf der Straße einfach umgefallen," berichtet Polizeisprecher Jürgen Lützen. Mehrere hätten in tiefer Bewusstlosigkeit gelegen und seien zunächst sogar für tot gehalten worden. Nachdem sie geborgen werden konnten, kamen sie ins Krankenhaus.
Die Anwohner hatten keine Chance dem geruchlosen Gas zu entkommen, das aus der Firma über die Straßen und in die angrenzenden Wohnhäuser kroch. "Plötzlich hat unsere Labrador-Hündin Laika gebellt und ist nervös auf und ab gesprungen", erzählt Anwohner Michael Feldges.
Als er mit dem Tier Gassi geht, wankt der Vierbeiner. Da dreht Feldges auf dem Absatz um, packt seine zehn und zwölf Jahre alten Kinder und flieht weg von der Fabrik in Sicherheit. "Es wirkte, als presse einem jemand die Luft aus den Lungen. Entsetzlich war das", berichtet er. "Und dann, wir liefen gerade los, fielen plötzlich tote Vögel vom Himmel", sagt er noch sichtlich unter Schock.
"In der ersten Zeit nach dem Unfall sammelte sich das Gas, das schwerer ist als Luft, in gefährlichen Konzentrationen neben der Fabrik. Es war an dem Morgen völlig windstill, und das Gewerbegebiet liegt außerdem in einer Senke", erklärt Wolfgang Speen, Sprecher der Stadt Mönchengladbach. So konnte sich die nach dem Unfall aufgewirbelte Gaswolke in dicken Schichten übereinander lagern.
Dabei war das Gas so dicht, dass die Motoren der ersten Feuerwehr-Fahrzeuge beim Einfahren in die Wolke wegen Sauerstoffmangels ausgingen. "Drei Kameraden stiegen ahnungslos ohne Atemschutz aus - sie dachten zu dem Zeitpunkt noch an einen gewöhnlichen Brandeinsatz - und fielen sofort in Ohnmacht", berichtet Feuerwehrchef Lampe.
Dieselbe Erfahrung machte Bauarbeiter Bernd Wintzen, der mit seinem Lastwagen durch das Gewerbegebiet kam. "Als der Motor ausgeht, steige ich aus. Plötzlich ist die Luft weg, die Lunge zieht sich zusammen." Wintzen brach zusammen und wachte erst im Sauerstoffzelt wieder auf.
Sobald die Dimension des Unfalls klar war, lösten die Behörden Großalarm aus. Rund 400 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Polizei, Rotem Kreuz, Johannitern und Maltesern waren nach kurzer Zeit am Einsatzort, der im Umkreis von zwei Kilometern gesperrt wurde. Erst mit den Rotoren von zwei Hubschraubern gelang es die gefährliche Wolke aus den Straßen in Güdderath zu blasen.
Die Anwohner der Häuser neben der Fabrik wurden in Sicherheit gebracht. In Notfallzelten wurden sie untersucht, danach bekam jeder eine Plastikkarte um den Hals gehängt: Rot steht für "Einlieferung ins Krankenhaus", gelb für "leicht verletzt", grün für gesund. Schwarze Karten für Tote kamen zum Glück nicht zum Einsatz. Die Rettungskräfte waren perfekt eingespielt.
Betroffen von dem Unglück war auch die Bahn. Die nahe der Unfallstelle verlaufende Regionalstrecke Köln-Mönchengladbach wurde für mehrere Stunden unterbrochen. Auch die A61-Abfahrt Mönchengladbach Güdderath war gesperrt.
Noch immer ist unklar, wie die lebensgefährliche Kohlendioxid-Wolke aus dem Lackbetrieb entweichen konnte. "Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen", sagt Polizeisprecher Jürgen Lützen gegenüber unserer Zeitung. Selbst die erste Vermutung, dass es sich um einen technischen Defekt handele, "können wir nicht bestätigen", so Lützen.