Geschichte „Wir haben unter den Amis keinen Tag Not gelitten“
Osterath. · Christel Lambertz erinnert sich an die Kindheit in Osterath. Heute hat die 87-Jährige vier Kinder, drei Enkel und Urenkel und ist oft mit dem Fahrrad unterwegs.
Den Brandgeruch hat Christel Lambertz noch in der Nase: „Als Kinder haben wir zugesehen, wie die Pferde in der Schmiede an der Ecke Hoch-/ Willicher Straße beschlagen wurden.“ Ganz in der Nähe, am Kirchplatz 1, in der ersten Etage des Hauses, in dem es 36 Jahre lang das Buch- und Kunstkabinett Mönter gab, ist Christel Lambertz im Februar 1933 als Maria Christine Spicker geboren: „Meine Großeltern waren 1912 aus Bonn gekommen, um bei Ostara zu arbeiten – dort verdienten sie mehr.“
Zum Wohnen war nur wenig Platz und bald nach der Geburt der Enkeltochter zog die Familie in Richtung Görgesheide. Die Erinnerung an die Einschulung, kurz vor Kriegsbeginn, im April 1939 in die „Deutsche Volksschule in Osterath“ ist auch noch da: „Für 50 Erstklässler gab es eine leere Schultüte. Sie wurde zum Fotografieren herumgereicht.“ An den Besuch einer weiterführenden Schule war nicht zu denken: „Es war ja Krieg, nur zwei aus meiner Klasse konnten das nutzen.“ Einige der Dinge, die das kleine Mädchen damals erlebte, hat Christel Lambertz für das VHS-Schreibprojekt „Erinnerung bewahren – als weniger mehr war“ aufgeschrieben: „Meine Mutter hörte nachts auf das Geräusch anhaltender Züge, sie weckte uns Kinder, wir stiegen auf den Waggon, um Kohlen herunterzuwerfen und fuhren sie mit einer Schubkarre in den Garten. Dabei mussten wir die Spuren verwischen, denn die Bahnpolizei kontrollierte.“ Kardinal Frings hat „die Sünde“ später vergeben und daraus das „Fringsen“ gemacht: „Meine Mutter kam einmal nicht mehr vom Zug und musste eine Nacht in den Knast.“ Die Mutter war es auch, die davon hörte, dass an der Brauerei Bacher an der Krefelder Straße Schuhe auf der Rampe – sie ist heute noch zu sehen - verteilt werden, „es ging wie ein Lauffeuer durch den Ort“.
Bei Bacher sah Christel Lambertz zum ersten Mal einen schwarzen Menschen und sie erwischte ein Paar blaue Schuhe, einer war Größe 37, der andere 38. Also lief das Kind später durch den Ort und suchte nach einem Schuh, der zum anderen passte: „Es hat geklappt und die Freude meiner Mutter war riesig.“ Nach dem Krieg und der Schule lernte sie nähen und bald ihren Mann kennen, der aus Oppum kam: „Als wir heirateten hatten wir 100 Deutsche Mark Startkapital. Ich hatte bis zum Tag vor der Hochzeit meinen Lohn zuhause abgegeben und bekam lediglich fünf Deutsche Mark als Taschengeld im Monat.“
Selbstversorger im Krieg
gab es zwangsläufig viele
An dem Haus an der heutigen Kurze Straße gab es zum Kriegsende noch zwei Plumpsklos mit Herzchen-Türen und unmittelbar daneben in den weiten Feldern einen großen Bombentrichter: „Die Amis kamen über den grünen Weg und nahmen unser Haus in Beschlag. Wir zogen zum Bruder meiner Mutter, hatten dort ein Zimmer.“ Schokolade bekam sie von den Amis nicht: „Aber wir haben keinen Tag Not gelitten.“
Im Garten wuchs reichlich Gemüse, es gab Kaninchen und Hühner und in einem ausrangierten Kastenwagen direkt hinter dem Haus wurden Schweine gemästet und „schwarz“ geschlachtet.
Irgendwann gab’s ein Telefon: „Mein Vater hatte wichtige Positionen inne.“ Erst machten sich die Nachbarn über den Größenwahn lustig und später kamen sie alle zum Telefonieren zu ihnen. Lambertz wohnt noch heute in dem Haus, in dem sie ihre vier Kinder großgezogen hat. Auch sie hatten es in der Schule nicht leicht. Aber die Eltern haben dafür gekämpft, dass ihre Tochter und die drei Söhne das Abitur machen konnten. Das hat sich gelohnt – alle sind in ihrem Berufsfeld erfolgreich und teils promoviert: „Meine Kinder – es gibt auch drei Enkelkinder und Urenkel - sind klasse und immer für mich da. Ich habe versucht, ihnen gutes Sozialverhalten zu vermitteln.“ Die Goldhochzeit wurde 2004 mit der ganzen Familie in Thüringen gefeiert: „Das war ein Geschenk.“ Denn 2005 ist ihr Mann verstorben.
Seitdem meistert die 87-Jährige ihr Leben eigenständig: „Es war früher nicht immer leicht, aber ich bin dankbar und habe meine Fröhlichkeit behalten.“ Christel Lambertz hat sich einer Fahrrad-Gruppe in Osterath angeschlossen, ist mit ihnen unter anderem nach Rom, Paris, Malta und zum Gardasee gereist, hat mit ihrem E-Bike – liebevoll „mein Fiets“ genannt - in den vergangenen drei Jahren 12 500 km zurückgelegt und lädt ab und zu Kinder aus der Nachbarschaft zum Essen ein: „Dann schmeckt es viel besser.“ Einen Wunsch hat Christel Lambertz: „Ich möchte gern noch einmal zu meinem Sohn nach Garmisch-Partenkirchen, der dort als Chefarzt in der Klinik arbeitet. Wegen Corona war das jetzt alles nicht möglich.“