„Mit dem Schicksal hadern bringt nichts“

Thomas Mühle sitzt seit neun Jahren in Büderich vor Edeka und verkauft „fifty-fifty“-Magazine. Er kennt die Menschen im Ort und sie kennen ihn. Von vielen wird er geschätzt - und wer die Lebensgeschichte des gebürtigen Berliners kennt, tut dies umso mehr.

Anfang Februar feierte Thomas Mühle sein Neunjähriges. Seit 2009 sitzt der 64-Jährige vorm Edeka in Büderich. Hier verkauft er das Straßenmagazin „fiftyfifty“. Immer von donnerstags bis samstags, immer von etwa neun Uhr bis zum Mittag. Vielen Büderichern ist Mühle bekannt. Und seine Kunden ihm. Wer an ihm vorbeikommt, wird freundlich begrüßt, die meisten seiner Kunden beim Namen. Man erkundigt sich gegenseitig nach dem Wohlbefinden. Tauscht Geld und Zeitung aus, und sagt sich freundlich auf Wiedersehen. Thomas Mühle wirkt mit sich im Reinen, wenn man ihn so sitzen sieht. Nicht unbedingt selbstverständlich bei all dem, was er in seinem Leben erlebt hat. „Doch hadern bringt nichts. Man muss sich mit jeder Situation arrangieren“, sagt er.

Seine Geschichte beginnt 1955 in Berlin-Zehlendorf. Er wächst auf in einem guten Elternhaus, soll das Abitur machen. Mühle verliert jedoch die Lust, muss die zwölfte Klasse zwei Mal machen und wird im Frühjahr 1973 nach Irland auf eine Klosterschule geschickt. Doch die Schule beendet er dort auch nicht. Er haut ab. Landet auf Ibiza, wird Teil der Hippie-Bewegung. Als das Geld knapp wird, kehrt er 1974 nach Berlin zurück und macht eine Lehre als Gärtner. 1980 erfährt er, dass er an Rheuma leide. Er schult um zum Zahntechniker. Diesem Job bleibt er viele Jahre treu. Er verdient „hervorragendes Geld, teilweise bis zu 70 000 D-Mark im Jahr“, sagt er. In dieser Zeit lernt er auch seinen späteren Mann und gebürtigen Thailänder Wiman kennen. Dieser kam 1991 als Koch nach Deutschland. Durch ihn entdeckt Mühle seine Liebe zu Thailand, wo sie sich 1994 ein Ferienhaus kaufen. Sie hegen sogar den Plan, irgendwann dorthin auszuwandern und sich selbstständig zu machen. Ihr Traum: ein Handel mit Teakholz-Möbeln.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Nach dem Tod von Mühles Eltern verlassen sie Deutschland schließlich im August 2003. Das Paar zieht zunächst in die Nähe zur Familie von Mühles Mann, mit der sie jedoch keinen guten Kontakt haben. Gut ein Jahr später geht ihr Traum in Erfüllung: In Chiang Mai, im Norden Thailands, eröffnen sie ihren Betrieb „Teakwoodpowder“. Sie beziehen ein vierstöckiges, 600 Quadratmeter großes Haus. Unten werden Ausstellungsstücke präsentiert, es gibt zudem ein Restaurant. Auf zwei Etagen werden die Möbel angefertigt, das Paar wohnt in der obersten Etage. „Die Geschäfte liefen von Anfang an fantastisch“, sagt Mühle. Zu Spitzenzeiten hätten sie mehr als 40 Mitarbeiter beschäftigt. „Wunderschön“ sei die Zeit gewesen, „wir haben ein tolles Leben geführt.“ Bis zum Frühjahr 2008. Dann folgt der Absturz. Sein Mann erleidet einen Herzinfarkt und stirbt im Krankenhaus. Mühle begibt sich für einige Tage in ein buddhistisches Kloster, um den Tod zu verarbeiten. Als er zurückkehrt, steht er vor dem Nichts: Seine Schwiegermutter habe einfach den Betrieb aufgelöst und „mich vor die Tür gesetzt“, sagt er. „Das Problem ist, dass in Thailand immer ein Thailänder die Mehrheit an einer Firma halten muss“, so Mühle. Als sein Mann stirbt, gehen dessen 51 Prozent an dessen Familie. „Mein Anteil war auf einmal wertlos. Die Konten wurden aufgelöst, meine Schwiegermutter hat sich alles eingesackt“, berichtet er. Sein Anwalt sagt ihm, man könne nichts machen. Es folgt eine Tortur.

Mühle geht irgendwann das Geld aus. Er kann das Visum nicht mehr bezahlen und muss sich mittellos melden. Durch das fehlende Visum landet er in Bangkok in Abschiebehaft. Unter grausigen Bedingungen. „In unserer Zelle saßen bis zu 200 Menschen“, sagt er. Die deutsche Botschaft sei zwar informiert worden, habe ihm nach zwei Monaten aber mitgeteilt, ihm nicht helfen zu können. Es habe sich niemand gefunden, der bereit gewesen sei, seine Ausreise zu bezahlen.

Sein körperlicher Verfall wird im Gefängnis immer schlimmer. Nach einiger Zeit kann er kaum noch laufen. Sein Glück ist nach einem halben Jahr eine Hilfsorganisation, die ihm im November 2008 die Ausreise nach Deutschland ermöglicht. So landet er in Düsseldorf, mit zehn Euro Starthilfe, die er von der Organisation erhalten hat. Hier lebt er anfangs als Obdachloser, schläft nachts in einem Heim. Er erhält Hartz-IV und fängt 2009 an, in Büderich die „fiftyfifty“ zu verkaufen. Nach einiger Zeit wurde ihm eine kleine Wohnung im Duisburger Süden vermittelt. „Sie ist wunderschön“, sagt er. Ohne zu hadern. „Denn das bringt nichts.“