Eine Geschichte von Verblendung und Scheitern

Glanzvoller Auftritt des Londoner Globe Theatre: Joseph Marcell spielt den erzürnten Herrscher kraftvoll und feinsinnig.

Neuss. Der Beginn ist eigentlich ein optimistischer märchenhafter Aufbruch in eine neue Zeit: Der alternde König ist des Regierens müde und will das Zepter an die nächste Generation weiterreichen. Diejenige seiner drei Töchter, die ihm am meisten zugetan ist, soll sein Reich erhalten.

Die älteren Töchter, Goneril und Regan, umschmeicheln den alten Mann und beteuern ihm ihre übergroße Liebe. Die jüngste Tochter Cordelia ist zu solchen Unaufrichtigkeiten nicht imstande. Sie liebe ihren Vater so, wie es sich für eine gute Tochter gehört. King Lear, in seiner Eigenliebe gekränkt, verstößt sie und übergibt den anderen Töchtern je die Hälfte seines Reiches. Damit setzt er die schreckliche Tragödie in Gang, die Tod, Verderben und Wahnsinn bringt.

Das Acht-Personen-Ensemble des Londoner Globe Theatre zieht die Zuschauer sofort in seinen Bann. Joseph Marcell spielt den erzürnten Herrscher mit einem solchen Furor, dass man die Zuschauer in den ersten Reihen vor ihm fast ebenso erschrocken zurückweichen sieht, wie bei den nachfolgenden Kampf- und Fechtszenen. Auch in seinem späteren Hinübergleiten in Wahnsinn und Verzweiflung liegt königliche Würde, nicht einmal ein Auftritt in langen Unterhosen vermag daran etwas zu ändern.

Ruth Everett und Shanaya Rafaat spielen die niederträchtigen Schwestern Goneril und Regan nicht bloß als hinterhältige Schlangen, sie gewinnen ihren Figuren auch andere Facetten ab. Sie sind selbstbewusste junge Frauen, die ihr Schicksal selbst bestimmen wollen und sich eben mehr nehmen, als das, was ihnen der Vater zugewiesen hat. Das hat zweifellos etwas sehr modernes, nicht zuletzt optisch unterstrichen durch die langen Hosen, die Regan auf der Bühne trägt.

Bethan Cullinane brilliert als aufrichtige Cordelia ebenso wie als schnoddriger Narr, der bei aller Düsternis dieses Dramas für die komischen Momente sorgt. Mühelos gelingt ihr der schnelle Wechsel von der tränenerfüllten, anmutigen Schönheit zum plumpen Hanswurst. Aber mit diesen Mehrfachbesetzungen hat ohnehin keiner dieser Shakespeare-Profis auch nur das geringste Problem. Sie spielen neben ihren Doppel- und Dreifachrollen (Oliver Boot ist sensationell als Edmond, Oswald und König von Frankreich) auch gleich alle Soldaten, Boten und Diener so routiniert, dass vergessen ist, dass dort lediglich acht Schauspieler das Geschehen bestimmen.

Auch das naturgemäß sparsame Bühnenbild lässt sich dank weniger Handgriffe immer wieder so arrangieren, dass die Kulisse stets perfekt ist. Für das Augenmerk auf solche Details bleibt aber eh nur wenig Zeit, so gefesselt sind die Zuschauer vom Drama auf der Bühne.

Unaufhaltsam steuert die Katastrophe ihrem Höhepunkt zu, unaussprechliche Grausamkeiten werden da zugefügt und vom Earl of Gloucester (Rawiri Paratene) erlitten. Er spielt den gequälten, getäuschten Edelmann mit einer solchen Wärme, dass sich dessen Erniedrigung und Qual umso schwerer auf dem Zuschauersitz aushalten lassen. Diese Anspannung löst sich erst mit dem donnernden Applaus.