Gemeinsam gegen die Demenz
Wilhelmine Mitterstrasser lebt seit einem Jahr in einer Neusser WG für Demenzkranke.
Neuss. Eines Morgens wachte Wilhelmine Mitterstrasser auf und wusste nicht mehr, wo sie war. Sie klopfte an die Wände ihrer Wohnung, ein Nachbar hörte sie und rief die Feuerwehr. Die brach schließlich die Tür auf. Ein anderes Mal stand ihr Bad unter Wasser, weil die 82-Jährige vergessen hatte, den Hahn an der Badewanne zuzudrehen.
Ihre Angehörigen wussten, dass es Zeit war, etwas zu unternehmen. Doch ihnen fehlte der Mut. Vor einem Jahr dann der Zusammenbruch — Krankenhaus — und die Gewissheit: Wilhelmine Mitterstrasse ist an Demenz erkrankt. Seit elf Monaten wohnt sie in der einzigen Demenz-WG, die es im Rhein-Kreis Neuss gibt.
„Hätten wir früher gewusst, wie gut es unserer Mutter hier gehen würde, wir hätten sie viel eher in der Wohngemeinschaft untergebracht“, sagt Tochter Helga Scholten. Lange Zeit haben sie und ihre Geschwister die Tatsache verdrängt, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte. „Man will es nicht wahrhaben“, sagt die 56-Jährige.
Als ihre Mutter dann vor einem Jahr die Diagnose Demenz erhielt, erfuhr Helga Scholten durch einen Zufall von der WG für Demenzkranke der Diakonie in Neuss. Gerade zu diesem Zeitpunkt wurde dort auch ein Platz frei. Nach einem Schnuppertag war klar, dass Wilhelmine Mitterstrasser ein neues Zuhause gefunden hatte.
„Schöne Lage, gute Aussicht und man ist nicht eingeengt“, beschreibt die 82-Jährige ihr neues Domizil. Sie sitzt gemeinsam mit ihren Mitbewohnerinnen an einem großen Holztisch mitten in einer gemütlichen Wohnküche. Auf dem Herd stehen Kochtöpfe und Pfannen für das Mittagessen bereit.
„Jeder macht das, was er will und kann — das ist unser Motto hier. Wir brauchen kein ausgefeiltes Gehirntraining, der Alltag in der WG ist das beste Training“, erklärt Angelika Hochstrate von der diakonischen Beratungsstelle für Fragen im Alter. Wer also noch in der Lage ist, seine Wäsche selbst zu waschen, der soll und darf das machen.
Wilhelmine Mitterstrasser hilft gerne im Haushalt und beim Kochen. „In ihrer Wohnung hat sie sich einsam gefühlt und nach einer Beschäftigung gesucht“, erzählt Tochter Helga Scholten. Ihr ist es nicht schwer gefallen, ihre Mutter in die WG umziehen zu lassen.
Sie wusste, dass es ihr dort nur besser gehen konnte. Innerhalb kürzester Zeit lebte sie auf, fühlte sich sichtlich wohl. „Sie ist hier für die Unterhaltung zuständig und hat immer einen Scherz auf den Lippen“, sagt Helga Scholten und stupst ihre Mutter liebevoll an. Die nickt zustimmend und lacht.
Mit Wilhelmine Mitterstrasser wohnen noch fünf andere Frauen in der WG an der Wingenderstraße. „Das Verständnis untereinander ist gut. Das sehe ich zumindest so“, sagt die 82-Jährige und blickt in die Runde. Zustimmendes Nicken.
Im Gespräch mit ihr merkt man kaum, dass sie krank ist. Sie lacht viel, erzählt und mischt sich ein. Nur als sie Angelika Hochstrate ansprechen möchte und nicht mehr weiß, wie sie heißt, zeigt sich kurz eine Facette ihrer Krankheit.
Während sich im unteren Bereich des Hauses ein vollstationärer Bereich für Senioren befindet, leben die sechs Demenzkranken in der Wohngemeinschaft so weit es geht selbstständig. „Tagsüber werden sie durch eine Pflegekraft betreut und nachts ist der Nachtdienst des Hauses für sie da“, erklärt Hochstrate.
Für sie ist es wichtig, demente Menschen nicht aus dem öffentlichen Leben heraus zu halten. „Sie gehören zum Leben aller dazu. Die Menschen müssen lernen, dass jemand, der an Demenz erkrankt ist, nicht automatisch einer ist, der gar nichts mehr kann.“
Jede Bewohnerin im Elise-Averdieck-Haus hat ihr eigenes Zimmer und kann sich auch zurückziehen, wenn ihr die Gruppe einmal zu viel wird.
Wilhelmine Mitterstrasser hat die eigenen Möbel aus ihrer alten Wohnung aufstellen lassen. Dunkle Eichenmöbel stehen an den Wänden, auf der Anrichte reihen sich die Fotos von Kindern und Enkeln aneinander.
Die 82-Jährige möchte sich setzen und schiebt ihren Rollator zum Sofa. „Alles geht langsamer“, sagt sie. Mit ihrer Krankheit scheint sie sich arrangiert zu haben. „Man darf sich nicht hängen lassen, das habe ich gelernt. Ich habe so viel überstanden, da werde ich das hier auch noch schaffen“, sagt die Seniorin kurz ernst. Dann reißt sie den nächsten Witz und bringt alle zum Lachen.